Die Kapitulation der deutschen 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 beendete den Vormarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion und war eine erste markante Niederlage der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg.[1] Mit der Eröffnung der zweiten Front im Westen durch die Landung alliierter Streitkräfte in der Normandie ab dem 6. Juni 1944 begann sich der Kriegsverlauf weiter zu Deutschlands Ungunsten zu entwickeln.[2] Ein weitaus bedrohlicheres Bild zeichnete sich ab, als die Rote Armee erstmals am 17. August 1944 an der ostpreußischen Grenze bei Schirwindt deutschen Boden betrat[3] und am 11. September 1944 im Westen südlich von Aachen amerikanische Soldaten übersetzten.[4]
Um die militärische Gegenmacht der alliierten Truppen doch noch abzuwenden, reagierte die Reichsführung mit einer umfassenden Mobilmachung für den Kriegseinsatz. Alle bisher nicht eingezogenen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren, die in der Lage waren, eine Waffe zu tragen, sollten hierfür eingezogen werden. In einem Erlass Hitlers vom 25. September 1944 zur Bildung des „Volkssturms“ heißt es hierzu bedrohlich: „Nach fünfjährigem schweren [sic] Kampf steht infolge des Versagens aller unserer europäischen Verbündeten der Feind an einigen Fronten in der Nähe oder an den deutschen Grenzen. Er strengt seine Kräfte an, um unser Reich zu zerschlagen, das deutsche Volk und seine soziale Ordnung zu vernichten. Sein letztes Ziel ist die Ausrottung des deutschen Menschen. (…) Dem uns bekannten totalen Vernichtungswillen unserer jüdisch-internationalen Feinde setzen wir den totalen Einsatz aller deutschen Menschen entgegen. Zur Verstärkung der aktiven Kräfte unserer Wehrmacht und insbesondere zur Führung eines unerbitterlichen Kampfes überall dort, wo der Feind den deutschen Boden betreten will, rufe ich daher alle waffenfähigen deutschen Männer zum Kampfeinsatz auf.“[5]
Der Öffentlichkeit wird dieser Erlass erst ein paar Wochen später bekannt gegeben. In Quickborn informierten die Holsteiner Nachrichten in der Ausgabe vom 19. Oktober 1944 unter dem Titel „Volk ans Gewehr!“ von der Gründung des deutschen Volkssturmes und ein Antreten erster Einheiten in Königsberg (Ostpreußen) vor Reichsführer-SS Himmler.
Neben dem Ziel des Aufhaltens feindlicher Streitkräfte auf deutschem Boden diente der eher spärlich ausgerüstete und ausgebildete Volkssturm im späteren Verlauf seines Einsatzes dazu, Zeit zu gewinnen, um für die Wende im Kriegsverlauf neu entwickelte Waffen einsetzen zu können und um die gegnerische Koalition zu spalten und separate Verhandlungsmöglichkeiten, vor allem mit den westlichen Alliierten zu schaffen. Nach innen sorgte der Volkssturm durch seine nationalsozialistische Mobilisierungskraft dazu, die gesellschaftliche Stabilität der NS-Herrschaft lange Zeit zu wahren.[6]
Die Führer der Volkssturmeinheiten wurden von den NSDAP-Gau- bzw. den Kreisleitern ausgewählt. Die Ausbildung der Volkssturmmänner, die von Angehörigen der Wehrmacht, der SA, der Waffen-SS oder der Polizei übernommen wurde, sah eine Unterweisung in den Gebrauch von Maschinengewehren, Granatwerfern, Handgranaten, Panzerfaust, Pistolen und Gewehren vor. Darüber hinaus sollten Geländeübungen, Verlegen von Minen, Schanzen, Tarnen und Spähen geübt werden.[7] Seit Januar 1945 erfolgte auch der Einsatz des Volkssturmes zur Bewachung von Kriegsgefangenen. In westlichen Gebieten des Deutschen Reiches wurde diese Miliz für den Bau von Stellungen und Panzersperren eingesetzt.[8]
Erstmals im gesamten Deutschen Reich in Erscheinung trat der Volkssturm mit den einheitlichen Vereidigungen der Volkssturmmänner anlässlich des „Tags der Bewegung“ am 12. November 1944, was die Heimatpresse plakativ mit den Überschriften „Volk und Führung verschworen“ und „Dem Führer bis zum Tode getreu“ bekannt gab.[9] In Quickborn kündigte die Lokalpresse diesen Tag wie folgt an: „Um 8.30 Uhr tritt der Volkssturm auf dem Schulhof an. Unter Vorantritt einer Gewehrgruppe der Wehrmacht erfolgt der Marsch zum Ehrenmal in der Bahnhofstraße. Nach der Ehrung der Gefallenen erfolgt die Vereidigung des Volkssturmes. Die Angehörigen unserer Gefallenen sind zu dieser Feierstunde herzlichst eingeladen.“[10]
In der Landgemeinde Quickborn wurde NSDAP-Ortsgruppenleiter Willi Bendorf mit der Organisation des Volkssturmes betraut. Er ließ alte Bewohner und noch nicht zur Wehrmacht eingezogene Mitglieder der Hitler-Jugend für den Dienst im Volkssturm einziehen.[11] Ein Zeitzeuge beschrieb ihn als „dummer Mensch, aber unglaublich fanatisch“.[12] Ein anderer gab 1947 über ihn an, dass er „gegen Ausgang des Krieges als in Quickborn der Volkssturm einberufen wurde und geschippt [Panzergräben ausheben, d. Verf.] werden musste, diese Dinge scharf durchführte.“ Hierbei seien auch zwei Menschen, die sich geweigert hatten, am Schippen teilzunehmen, festgenommen.[13] Bendorf selbst verkündete auf einer Arbeitstagung der NSDAP-Ortsgruppe Quickborn Mitte Januar 1945: „Zu der Arbeit des in den letzten Monaten des vergangenen Jahres aufgestellten Volkssturmes gab der Ortsgruppenleiter seiner Freude Ausdruck und stellte fest, dass alle Männer, bis auf einige wenige Außenseiter, mit Lust und Liebe bei der Sache sind.“[14]
Zu den Aktivitäten des Volkssturmes gehörte der Bau von Barrikaden bzw. Panzersperren auf der Kieler Straße, nahe des Elsensees beim damaligen Bauernhof von Ernst Wrage (heute Pferdereitstall Gut Elsensee).[15] Um den Ort vor den Feinden zu verteidigen, wurden große Holzpalisaden, die mit Sand gefüllt wurden, auf der Hauptstraße errichtet.[16] In dieser Straßensperre gab es nur einen sehr engen Durchlass, sodass nur ein Fahrzeug hindurchpasste und sich dieser im Ernstfall schnell verschließen ließ.[17] Von dem angrenzenden Hof sollten die feindlichen Streitkräfte mit Panzerfäusten aufgehalten werden.[18]
Verstärkt wurde diese Straßenbarrikade durch Panzergräben, die östlich der Kieler Straße bis zum Elsensee und auf der anderen Seite ein paar hundert Meter in die Wiese hineinragten.[19] „Alles, was Beine hatte“, so ein Zeitzeuge, beteiligte sich an diesem Bau. Hierzu gehörten nicht nur Mitglieder des Jungvolks und der Hitler-Jugend sowie ältere Bewohner, sondern auch Kriegsgefangene.[20]
Eine ähnliche Panzerschutz-Barrikade entstand am nördlichen Ortsausgang im Bilsener Wohld bei der Villa Waldfrieden (heute Jagdhaus Waldfrieden).[21] Darüber hinaus gruben der Volkssturm „Einmannlöcher“ im Harksheider Weg auf der Höhe der heutigen Ev.-Luth. KiTa Quickborn[22] und weiter östlich an der Ulzburger Landstraße.[23] Diese waren ca. 1,20 bis 1,50 Meter tief, damit dort bei herannahenden Panzern der Volkssturmmann aus seinem Versteck mit der Panzerfaust schießen konnte.[24]
Anfang 1945 schien das Kriegsgeschehen noch weit entfernt. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter appellierte auf einer Tagung der Nationalsozialisten Mitte Januar: „Für das begonnene Jahr, sagte er, dürften wir Hoffnung hegen, dass es uns wieder voranbringen werde. Es müssten alle Kraftanstrengungen getan werden. Und so forderte er alle Mitarbeiter auf, sich noch mehr und mit noch größerem Eifer in den Dienst der großen Sache zu stellen.“[25] Auch die vermutlich letzte Arbeitstagung der NSDAP-Ortsgruppe verlief wenig spektakulär. Themen waren hier die Unterbringung der Flüchtlinge, die Zuteilung der Saatkartoffeln und die Ausführungen des NSDAP-Kreisleiters, der über die „augenblickliche allgemeine Lage“ sprach.[26] Am 11. März 1933, dem „Heldengedenktag“, kamen Nationalsozialisten, Wehrmachtsangehörige und Volkssturmmänner noch einmal zu einer „kurzen, würdigen Feier“ am „Ehrenmal“ zusammen, um an die „für Deutschlands Freiheit Gefallenen“ zu gedenken.[27] Die letzte öffentliche Veranstaltung vor dem Eintreffen der Briten und dem Zusammenbruch des NS-Regimes wird vermutlich die „Verpflichtungsfeier der Jugend“ im Quickborner Lichtspielhaus gewesen sein, die am 25. März 1945 stattfand und in der letztmalig junge Menschen in die Hitler-Jugend aufgenommen wurden.[28] Es war dieses ein Zeitpunkt, an dem Berlin bereits eingeschlossen war und in Torgau an der Elbe sich Soldaten der USA und der Sowjetunion die Hände reichten.[29]
Im April 1945 drangen die britischen Streitkräfte immer weiter nach Norddeutschland vor. Mit dem Herannahen häuften sich die Tieffliegerangriffe.[30] Die Schulen wurden in Quickborn aufgrund dieser tödlichen Gefahr am 17. April 1945 geschlossen.[31] Im April 1945 sollen im Raum Quickborn drei Personen durch Tieffliegerangriffe und eine Person durch eine Bombe getötet worden sein.[32] Ein weiterer tödlicher Tieffliegerangriff erfolgte am 2. Mai 1945. Durch den Beschuss eines Zuges südlich der Haltestation Elsensee, starb um 11:30 Uhr der Zugführer Erich Wönne durch einen Kopfschuss.[33]
Nun häuften sich die Geschehnisse. Ende April 1945 machte eine SS-Panzertruppe noch einmal ca. zwei Tage in Quickborn halt, um mehrere Schützenpanzer in einer Reparaturwerkstatt überholen zu lassen.[34] Ungefähr zur gleichen Zeit überquerten britische Streitkräfte bei Artlenburg in der Nähe von Lüneburg die Elbe.[35] Als Hitler sich am 30. April 1945 im Bunker unter der Reichskanzlei in Berlin das Leben nahm, gab am nächsten Tag der Rundfunk seinen Tod der Öffentlichkeit bekannt.[36] An diesem Tag erschien auch die letzte Ausgabe der Holsteiner Nachrichten, weiterhin mit Durchhalteparolen: „Verteidigung Berlins mit aller Kraft“.[37]
Anfang Mai 1945 kam es zu Gesprächen der britischen Streitkräfte mit der politischen und militärischen Führung Hamburgs. Die Situation erschien für Gauleiter Kaufmann und Bürgermeister Krogmann aussichtslos. Die Verteidigung Hamburgs würde eine weitere Zerstörung und hohe Verluste mit sich bringen. Die Stadt Hamburg wurde daher, später auch mit Zustimmung von Hitlers Nachfolger Großadmiral Dönitz, als offene Stadt erklärt. Am Abend des 2. Mai 1945 verkündete dieses Gauleiter Kaufmann über den Radiosender (siehe unten Audiodatei). Vor der geplanten Übergabe der Stadt Hamburg an die Briten am 3. Mai wurden alle Wehrmachtseinheiten in einem Fernschreiben des Oberbefehlshabers Nordwest dazu aufgefordert, sich am 2. Mai bis 24:00 Uhr auf die Linie Elmshorn – Barmstedt – Alveslohe zurückzuziehen.[38] In dieser Zeit werden sich in Quickborn auf der Kieler Straße viele deutsche Truppenangehörige mit Militärfahrzeugen in Richtung Norden befunden haben, die meisten von ihnen demoralisiert und wohl wissend, dass das Ende des Krieges nur noch eine Frage der Zeit war. Während ihres Durchmarsches hinterließen sie einen Teil ihrer Kriegsausrüstung, wie sich Zeitzeugen erinnerten: Kriegsmaterial lag hier jede Menge rum – Fahrzeuge und Waffen.[39] Der Umgang untereinander und die Gespräche wurden freier. Der Lehrer Max Frauen, selbst Mitglied der NSDAP, führte in der Schulchronik aus: „Immer klarer wurde es nun auch den bis dahin „Unentwegten“ und „Blinden“, dass der Krieg endgültig verloren sei. Freier wurde allmählich das Gespräch. Die in der Schule liegenden Soldaten schlugen den freiesten Ton an. Als der Feind sich Hamburg näherte, wurde die Fliegergefahr für Quickborn immer größer. Alles atmete auf, als es hieß, Hamburg werde sich kampflos ergeben. Der Tod des „Führers“ regte keinen mehr auf. Endlich kam die Stunde, wo man ein freies Wort sagen konnte, ohne erst nach allen Seiten zu blicken, ob auch ein Lauscher da sei („Der deutsche Blick“!).“[40]
Gegenüber den Panzersperren am Elsensee ließen einige deutsche Soldaten verlauten: „Ihr seid verrückt, was soll das? Das ist ja ein Blödsinn, ihr spinnt ja wohl!“[41] Auch in den Reihen des Volkssturmes begann es zu Rumoren, so aus den Erinnerungen eines Zeitzeugen: „Wir werden hier alle zusammengeschossen. Was soll das Ganze? Hier wird nichts verteidigt.“ [42] Den meisten Volkssturmmännern wird spätestens nach der bedingungslosen Kapitulation Hamburgs klar gewesen sein, dass eine Niederlage des NS-Regimes nicht abzuwenden war und eine unsinnige und zwecklose Verteidigung an der Panzersperre der Kieler Straße den Ort Quickborn in das zerstörerische Kriegsgeschehen hineingerissen hätte.[43]
Die Straßenbarrikaden wurden noch vor dem Eintreffen der Briten abgebaut und alles, was vom Volkssturm und der Wehrmacht an Waffenmaterial liegen blieb, im Elsensee versenkt.[44]
Nachdem die britischen Truppen am Nachmittag des 3. Mai in Hamburg einrückten und gegen 18:00 Uhr im Hamburger Rathaus die Stadt übergeben bekommen hatten,[45] zogen die Briten am nächsten Tag weiter in Schleswig-Holstein vor. Gegen 10:00 Uhr wurde Pinneberg und gegen 11:00 Uhr Wedel von den Briten besetzt. Am späten Vormittag erreichen sie Quickborn über die Kieler Straße.[46] Die Besetzung war, so ein Zeitzeuge, ganz unspektakulär vor sich gegangen: „Und dann war eines Tages Stille, absolute Stille. (…) Und dann hörte man – es war um die Mittagszeit – so ein Klötern und Klappern. Das waren die Panzerketten. Und ich dann natürlich blitzschnell raus – und mein Vater hat geschimpft – hin zur Straße, mussten wir und dann kamen die. Da war ja drüben im Sängerheim, da war ein Gefangenenlager. Da waren französische Gefangene drin. Und das Jubelkonzert, das klingt mir heute noch in den Ohren!“[47] Beim Eintreffen der Briten standen nur ein paar Kinder an der Kieler Straße. Erwachsene waren nicht zu sehen.[48] Ganz ähnlich erinnerte sich Werner J. an diese Zeit. Er wohnte bei seinen Eltern auf dem Hof am Klingenberg und konnte schon von weitem die Panzer hören. Auch er erinnerte sich an die französischen Kriegsgefangenen, die an der Kieler Straße in Grabbes Gasthof untergebracht waren, und die Briten in Empfang nahmen. Über Ortskenntnisse verfügend fuhr ein Panzerspähwagen gleich zu der Funkstation weiter, die eine wichtige militärische Anlage in Quickborn war.[49]
Für Quickborn war mit dem Einmarsch der Briten die Zeit der NS-Herrschaft vorbei. Vielleicht endete diese auch schon bereits im Laufe des 3. Mai als die letzten versprengten Wehrmachtsangehörigen sich verspätet auf den Weg zu der angeordneten Demarkationslinie Elmshorn – Barmstedt – Alveslohe machten und die örtlichen Führer der Nationalsozialisten in diesem politischen Vakuum sich nicht mehr auf ihre Machtinstitutionen stützen konnten.
Als eine Hinterlassenschaft des Volkssturmes verblieben noch die Panzergräben am Elsensee. Auf der Gemeinderatssitzung vom 7. Juni 1946 stellte der Landwirt Wrage gegenüber der Gemeinde den Antrag, die auf seinem Grundstück liegenden Panzergräben zuschütten zu lassen. Einstimmig stimmte der Gemeinderat diesem zu.[50]