Victor Andersen – ein Kämpfer für die Demokratie

Victor ganz rechts mit Mutter und Geschwistern ca. 1916 (Familienfoto, Privatbesitz Anne-Kathrin Andersen)
Schufo Uetersen im März 1933 - Victor Andersen direkt unterhalb des Fahnenträgers (Quelle: Museum Langes Tannen, Uetersen)
Eine der Sportstätten: die alte Schwimmhalle in Uetersen (Postkarte, Privatbesitz Anne-Kathrin Andersen)
Passfoto von 1981 (Privatbesitz Anne-Kathrin Andersen)
13. Dezember 1935
Heinrich-Schröder-Str. 10, Uetersen

Seit 2008 gibt es in Uetersen den Victor-Andersen-Weg. Durch diese Namensgebung wurde ein ganz besonderer Bürger geehrt. Was war so bemerkenswert an Victor Andersen (1907 -1995)? Er stellte über sein Leben fest: „Ich gehöre zu der Generation, die noch zum Teil die Monarchie, dann die Weimarer Republik, das Tausendjährige Reich und den Neuanfang bis zum heutigen Tag als Augen- und Ohrenzeuge mit erlebt hat.[1] Diese Zeitspanne haben nicht wenige Menschen erlebt, aber wie jemand sich in diesen wechselhaften und schwierigen Zeiten verhalten hat, kann bemerkenswert sein.

Die Monarchie – das Deutsche Kaiserreich

Als Jens Victor Emanuel Andersen am 10. Oktober 1907 geboren wurde, gehörte sein Geburtsort Sönderotting/ Gemeinde Hadersleben in Jütland vorübergehend zum Deutschen Kaiserreich.[2] Victor Andersens Vater Andreas Petersen Andersen, geboren am 19. Mai 1878 in Hadersleben, war von Beruf Bäcker.[3] Seine Mutter Emmy Andersen, geb. Sperati, stammte aus einer Musikerfamilie: Ihr Großvater aus Turin wirkte als Kapellmeister in Oslo, ihr Vater Victor Emanuel Sperati im Königlichen Orchester an der Stockholmer Oper.[4] Die Ehe der Eltern wurde am 28. September 1905 in Stockholm geschlossen,[5] und der Name ihres ersten Sohnes war aus dem dänischen „Jens“ und dem italienischen „Victor Emanuel“ zusammengefügt. Er hatte noch eine ältere Schwester, Doris. Als Jens Victor fast zwei Jahre alt war, zog die Familie um und wohnte vom 2. Oktober 1909 an in Uetersen, damals im Sandweg 15.[6] In Uetersen wurden seine beiden jüngeren Brüder Peter und Karl geboren.[7]

Victor Andersen erklärte 1987 in einer Rede, seine Erinnerung an die Vergangenheit setze mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ein, kurz bevor er sechs Jahre alt wurde.[8] Sein Vater schickte ihm während der Kriegsjahre mehrere Postkarten von der Front, auf denen auch eine „Bäckerkolonne“ – Soldaten neben einer Reihe von mobilen Backöfen – abgebildet war. In Victors erstem Schuljahr bevorzugte der Klassenlehrer aus praktischen Gründen den zweiten Vornamen Victor, sodass er von da an nicht mehr Jens, sondern Victor genannt wurde.[9]Innerhalb der Familie wurde er auch Vigge oder Vicke gerufen.[10] Sein Vater verkürzte seinen eigenen dänischen Namen zu Peter P. Andersen. In Victors Familie wurde zu Hause normalerweise Dänisch gesprochen, nur bei Tisch bestand die Mutter auf einer schwedisch geführten Unterhaltung. Außerhalb der Familie, z.B. mit seinen Freunden, sprach Victor Plattdeutsch.[11] So war er nicht nur in verschiedenen Sprachen heimisch, sondern durch die Herkunft seiner Eltern hatte er einen weiten Horizont, vielseitige Interessen und eine bemerkenswerte Selbstsicherheit, wie sich in seinem späteren Leben zeigte.

Die Weimarer Republik

Victors Andersens Volksschulzeit begann Ostern 1914, noch vor dem Ersten Weltkrieg, und endete Ostern 1923 mit der Entlassung aus der Abschlussklasse. Mit seinen guten Leistungen[12] hätte er danach das Gymnasium besuchen können, aber dafür fehlte das Geld.[13] Schulgeld betrug für Gymnasien monatlich 6-20 Reichsmark. Sofort im April 1923 begann er seine Maschinenbaulehre in der Uetersener Firma Hatlapa, deren Chef damals Max Hatlapa war. Sein Wochenlohn betrug im ersten Lehrjahr 10 Reichsmark[14]. Allerdings war 1923 das Jahr einer ungeheuren Inflation, was zu einer großen Armut der „kleinen Leute“ führte. Victor Andersen besuchte parallel die Gewerbliche Fortbildungsschule Uetersen – von Ostern 1924 bis zum 29. September 1925.[15]Am 2. Oktober 1926 schloss er die Ausbildung mit der Gesellenprüfung ab. Ihm wurden umfassende Fertigkeiten und Kenntnisse, Fleiß und Eifer bescheinigt. Betont wurden seine Sorgfalt und seine Zuverlässigkeit.[16]
Nach seiner Lehre in einem Betrieb, der Maschinen für die Schiffsausrüstung herstellte, plante er, zur Kriegsmarine zu gehen.[17] In dem Zusammenhang wurde am 1. Juni 1926 in einem polizeilichen Führungszeugnis festgestellt, dass nichts Nachteiliges über ihn zu berichten sei.[18] Die Kommandostelle der Kriegsmarine lehnte seine Bewerbung in höflicher Form ab, wobei auf die Einschränkungen durch den Versailler Vertrag hingewiesen wurde. Victor Andersens Größe und Gewicht entsprächen auch nicht den Anforderungen, die für Berufssoldaten gälten.[19]
Vom 2. März bis zum 2. Juli 1927 arbeitete er vorübergehend auf der Moorreger Schiffswerft von J.H. Jacobs.[20] Er heuerte 1926/27 auch zeitweise auf Küstenmotorschiffen an, u.a. als Leichtmatrose. Zwei Jahre später, 1929, erhielt er wieder ein polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintragungen,[21] als er die staatliche Prüfung als Schwimmmeister ablegte.[22] In dem amtsärztlichen Zeugnis wurde ihm eine laute, klare Stimme und bei 1,71 m Größe und 68 kg Gewicht eine kräftige, gesunde Konstitution bescheinigt,[23] was die Begründung der Kriegsmarine wie eine Ausrede wirken lässt. Insgesamt arbeitete er sechs Jahre als Maschinenbauer. Außerdem war er fünf Jahre als Badewärter tätig,[24] sowohl in der ersten Uetersener Schwimmhalle als auch im Freibad Oberglinde.

Aufgewachsen bin ich in einem sozialistischen Haus“,[25] stellte er in seinem Lebenslauf fest: Sein Vater Peter Andersen wirkte nach der Rückkehr aus dem 1. Weltkrieg maßgeblich im SPD-Ortsverein mit und war ab 1923 Stadtverordneter der Stadt Uetersen. Bis 1933 war Peter Andersen in der freien Gewerkschaft Ortsvorsitzender. Diese Aktivität blieb nicht ohne Einfluss auf seinen Sohn: Schon mit 12 Jahren, 1919, trat Victor in eine sozialistische Jugendorganisation ein (ab 1922: S.A.J. : „Sozialistische Arbeiterjugend“). Mit 17 Jahren erfolgte am 18. Januar 1924 Victors Eintritt in die SPD und in den Verein „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, der sich als Verteidiger der Freiheit und der demokratischen Grundsätze der Weimarer Republik verstand.[26] Der Verein „Reichsbanner“ bildete wegen zunehmender Auseinandersetzungen mit der SA (Sturmabteilung der NSDAP) und dem RFB (Rotfrontkämpferbund der KPD) einen eigenen Kampfverband. Neben der Grundorganisation des Reichsbanners gab es nun die Schufo (Schutzformationen). Die Schufo dienten dazu, Veranstaltungen und Einrichtungen der SPD oder der Gewerkschaft gegen äußere Angriffe von rechts und links zu verteidigen.
Victor Andersen war von 1929 bis 1933 Schufo-Führer in Uetersen.[27] Er kommandierte eine Gruppe von etwa 20 Kämpfern, die auch zum Einsatz kamen, denn schon bevor Hitler an die Macht gelangte, gab es heftige politische Unruhen. Im Hotel „Stadt Hamburg“ in Pinneberg, heute „Cap Polonio“, haben am 16.1.1931 Männer der SPD, der KPD und des Reichsbanners – unter ihnen Victor Andersen – versucht, bei einer Versammlung der NSDAP eine Debatte zu beginnen. Dies endete beim Auftritt von 60 SS-Leuten aus Hamburg „in einer Saalschlacht“.[28] In der Nacht nach der Wahl im Juli 1932 bewachte Victor Andersen mit Parteifreunden den gewerkschaftseigenen Laden „Produktion“ in Uetersen, als eine SA-Gruppe vom Auto aus eine Handgranate darauf warf und vor den Bewachern flüchtete.[29] Verletzt wurde niemand; immerhin wurde der Haupttäter später verurteilt. Auch einzelne Personen hatten mit Angriffen zu rechnen. So wurde Peter Andersen, der als Bäcker in einer Elmshorner Brotfabrik arbeitete, von Braunhemden überfallen, als er mit dem Rad zur Arbeit fuhr.[30]

Für Victor Andersen war klar: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg“.[31] 1931 gab es ein erweitertes Bündnis von Reichsbanner, Gewerkschaften, SPD und Arbeiterturnvereinen. Sie schlossen sich zur „Eisernen Front“ zusammen,[32] die sich zum Ziel setzte, die Naziherrschaft zu verhindern. Die Schufo waren Teil der „Eisernen Front“. Die Mitglieder wurden z.B. aktiv, als die SS mit 600 Mann in Uetersen aufmarschierte und dies „aufgrund der Gegenaktionen abgebrochen werden musste.“[33]
Wegen seiner Sportlichkeit brachte Victor Andersen die körperlichen Voraussetzungen für handfeste Auseinandersetzungen mit: Aktiver Sportler seit 1919, hatte er im Juli 1925 inFrankfurt am Main an der Internationalen Arbeiterolympiade teilgenommen.[34] Später betonte er oft, dass seine Sportlichkeit ihm geholfen hatte, die Strapazen in der Haft und im Krieg zu überstehen.[35]
Als am 20. Juli 1932 mit von Papens erster Notverordnung der Staatsstreich in Preußen stattfand und auch als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, erwarteten viele in der Arbeiterbewegung den Aufruf zum Generalstreik. Victor Andersen wertete den ausbleibenden Aufruf der führenden Köpfe in SPD (und Reichsbanner) als schwere Fehlentscheidung.[36]In diesen unruhigen Zeiten wurde Victor Andersen zum ersten Mal Vater: Am 20. Februar 1932 wurde seine Tochter Hildegard Minna geboren.[37]

Das „Tausendjährige Reich“ – Die Nazidiktatur

Ein Jahr darauf wurde am 26. September 1933 die zweite Tochter Emmi Luise geboren.[38] Knapp zwei Monate später heiratete er die Mutter der Mädchen, die 24-jährige Minna Luise Ladwig aus dem damaligen Westpreußen. Die Kinder erhielten seinen Namen.[39]
Bis zu den Kommunalwahlen am 12. März 1933 gab es in der Uetersener Stadtvertretung eine absolute SPD-Mehrheit. Nach den Kommunalwahlen am 12. März 1933 erhielt die NSDAP 11 von 18 Sitzen im Uetersener Stadtkollegium, die SPD hatte 6 Sitze, die KPD einen Sitz.[40] Am 25. März wurde der gewählte Bürgermeister Wellenbrink seines Amtes enthoben und am 7. April 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Die SPD-Stadtverordneten wurden aus dem Rathaus vertrieben. Zu ihnen gehörte auch Victor Andersens Vater Peter Andersen, der am 25. März 1933 ebenfalls „beurlaubt“ wurde.[41] Im Juni 1933 erfolgte das SPD-Verbot. Durch das Verbot wurde jede politische Aktivität im Sinne der SPD-Grundsätze zu einer illegalen Betätigung erklärt, die aktiven Mitglieder wurden dadurch kriminalisiert.[42] In ähnlicher Situation befanden sich die Mitglieder der KPD; diese Partei war schon Ende Februar/Anfang März 1933 verboten worden.
Victor Andersen notierte 1987: “… meiner ganzen Einstellung nach, konnt ich nicht abtreten. Ich beschloss illegal weiter zu arbeiten. Aber wie? Im Februar begannen bei uns die Haussuchungen und Verhaftungen. Meine erste Verhaftung erfolgte am 2. Mai 33. Abends stellte die SS fest Irrtum“. [sic!][43] Sein Vater Peter Andersen wurde ebenfalls am 2.5.1933 verhaftet und kam ins KZ Glückstadt.[44]
Victor Andersen war seit Februar 1933 mit dem KPD-Stadtverordneten Johann Britten befreundet. Er hatte auch Kontakt zu den Brüdern Franz und Josef Kristen sowie zu anderen KPD-Mitgliedern.[45] Nach seiner Erinnerung gab es in Uetersen 1933 etwa 100 Antifaschisten, von denen 71 verfolgt wurden. 31 von ihnen wurden verhaftet und verurteilt.
Einige KPD-Mitglieder aus Uetersen wurden Ende April in das KZ Glückstadt gebracht, so z.B. Wilhelm Behrs (bis 6.5.33), Franz Kristen (bis 31.5.33), Karl Haase (bis 22.5.33 und noch einmal vom 27.6. bis 17.7.33), Josef Kristen (24.6. bis 15.7.33).
Von der SPD aus Uetersen wurden die meisten am 26.6.33 verhaftet und am 1. oder 3.7.33 wieder aus dem KZ Glückstadt entlassen, z.B. Victor Andersen, August Kronberg, Wilhelm Lüdemann, Walter Meggers, Hermann Neuenburg, Wilhelm Quirling, Johannes Tiedemann, Adam Walper, der Stadtverordnete Heinrich Wilckens, der Stadtverordnete Paul Mischke; er kam erst 1944 aus dem KZ Neuengamme.
Außerdem wurden noch mindestens sechs parteilose Uetersener ins KZ Glückstadt eingeliefert, unter ihnen auch Philipp Sorg.[46]

Victor Andersen berichtete dem Autor des Buches „Die Freiheit lebt!“, Herbert Diercks, von etwa 22 konspirativen Treffen der Antifaschisten – bis zur Verhaftung und Zerschlagung der Gruppen. Sie fanden z.T. in Wohnungen, z.T. im Freien, an Gehölzen oder mehrmals sogar auf der Elbinsel Pagensand oder in Booten auf der Elbe statt. Besprochen wurden dabei die Organisationsform sowie das Widerstandsprogramm. Außerdem wurden Beiträge erhoben, bzw. abgerechnet und Zeitungen, Artikel oder Flugblätter übergeben. Britten und Andersen verfassten zusammen auch Texte, die verteilt wurden.[47]
Die Organisationsstruktur der Gruppen war durch die Hierarchie der KPD vorgegeben. Demnach gehörte Uetersen als „Stadtteil“ zu Elmshorn. Die Elmshorner hatten direkten Kontakt zur übergeordneten Gruppe in Altona (damals zu Schleswig-Holstein gehörig), die wiederum dem Bezirk „Wasserkante“ der KPD zugeordnet war. Innerhalb von Uetersen gab es mindestens drei Zellen, denen die Zelle Tornesch/ Heidgraben zugeordnet war.[48] Die SPD hatte sich weniger auf die Illegalität vorbereitet, aber es gab wegen der persönlichen Beziehungen innerhalb Uetersens gelegentlich ein Zusammenwirken von Mitgliedern beider Parteien oder ihrer angegliederten Organisationen. Victor Andersen wurde beauftragt, Widerstandsgruppen aus Mitgliedern der beiden Parteilager SPD und KPD zu bilden, sog. „Fünfergruppen“[49] Er sagte dies zu, aber er hatte nach eigener Auskunft kaum Erfolg damit.
Ein Problem war, dass die KPD einen ideologischen Widerstand gegen ein Bündnis mit der SPD aufgebaut hatte, indem sie der Moskauer Theorie vom „Sozialfaschismus“ folgte, die die Sozialdemokraten dem feindlichen Lager zurechnete[50] Ein weiteres Problem: Die SPD ihrerseits lehnte ein Zusammengehen ab wegen der gewaltbereiten Umsturzpläne der KPD; erst im Exil erklärte der geflüchtete SPD-Vorstand im „Prager Programm“, der gemeinsame Widerstand sei nötig. Victor Andersen gab dieses „Prager Programm“ an Hans Britten weiter, was ihm in der Anklageschrift vom 28. September 1935 als „hochverräterisches Unternehmen“ und damit strafbares „Verbrechen“ zur Last gelegt wurde.[51]

Nachdem die Verhaftungen 1933 die Antifaschisten abschrecken und mundtot machen sollten, erfolgte 1934 die Zerschlagung der Widerstandsgruppen, die dem Bezirk „Wasserkante“ zugerechnet wurden. Am 29.10 1934 wurden fünf Elmshorner verhaftet, vom 3. bis zum 28. Dezember wurden 226 Menschen verhaftet; dazu gehörte am 19.12.34 Victor Andersen. Im Januar und Februar 1935 erfolgten noch weitere 50 Festnahmen.[52]
Zum 80. Geburtstag von Victor Andersen berichtete das Pinneberger Tageblatt am 14.10.1987 u.a. von dessen Festnahme am 19.12.1934. Die Gestapoleute erschienen in der Firma Hatlapa, wo Andersen als Fräser arbeitete. Bei der Vernehmung durch die Gestapo „im Büro des Uetersener Polizeichefs Grundmann“ verlor er durch die Schläge „drei Zähne“.[53]  Andersen wurde schwer verprügelt und ertrug es schweigend, bis sein Mitkämpfer „Hans Britten hereingeführt wurde und ihm sagte: `Viktor, gib auf, die wissen alles.´“[54] Er kam danach ins Elmshorner Rathaus und von da aus ins KZ Fuhlsbüttel, „KoLaFu“ genannt. Die Wachmannschaft bestand aus SS-Männern. Im KoLaFu war er „auf A II/4 Stubenältester und später als Kalfaktor“ auf A II/27 tätig, d.h. er war eine Hilfskraft, die sich in der Anlage bewegen und dabei heimlich Informationen zwischen den Gefangenen überbringen konnte.[55] Es gab ein Nachrichtensystem durch die Lüftungen, sodass die Häftlinge ihre Aussagen abstimmen konnten. Dies wurde entdeckt und man vermutete zu Recht, dass Victor Andersen Informationen beim Morsen oder „Pendeln“ weitergegeben hatte; er wurde aber nicht dafür bestraft. Die Gefangenen wurden zu den Vernehmungen in einem Wagen ins Hamburger Stadthaus, ins Hauptquartier der Gestapo, gefahren. Dabei konnte Victor Andersen mit Heinrich Busch (SPD und Reichsbanner) aus Uetersen eine gemeinsame Linie für ihre Aussagen während der Verhöre verabreden.[56]

Die Gefangenen waren während der Verhöre durch die Gestapo im Hamburger Stadthaus schweren Misshandlungen ausgesetzt. Auch Erpressung, Nötigung und Bestechung gehörten zu den Gestapo-Methoden, wie Herbert Diercks berichtet.[57] Victor Andersen gelang es einmal, seine Akte einzusehen, als der Verhörer den Raum verließ, sodass er seine Aussagen damit abgleichen konnte.[58] Offensichtlich war er eine respekteinflößende Persönlichkeit, denn ein Mann vom Wachpersonal fragte ihn nach seiner Meinung zu einem politischen Ereignis und tat dies nach Andersens Einschätzung nicht, um ihn zu bespitzeln. Er besorgte ihm sogar ein Radio, damit er sich über die Ereignisse informieren sollte.[59]
In dieser Zeit versorgte ihn die Familie mit Wäsche und Lebensmitteln; wobei die Pakete persönlich abgegeben wurden. Die Frauen einiger inhaftierter Uetersener hielten zusammen, z.B. indem sie Pakete für mehrere Männer nach Hamburg mitnahmen. Das Geld war knapp und sie wollten Fahrgeld sparen. In Briefen versicherte seine Familie Victor Andersen ihrer Zuneigung und Unterstützung. Man sprach ihm Mut zu, berichtete von der Familie, besonders von seinen Kindern, und sandte Grüße von Freunden und Arbeitskollegen. Er bekam sogar Besuch von seinen Eltern, seiner Frau und der ältesten Tochter. Auch durfte er gelegentlich Antworten verfassen, wie aus den Briefen hervorgeht. Von Mai bis Ende August riss der Kontakt zwischen Victor Andersen und seiner Familie ab, als er bis zum 30.8.1935 in „Schutzhaft“ im KZ Esterwegen im Emsland war. Vom 30.8. an war er in Hamburg in Untersuchungshaft. Die zahlreichen Briefe sind ans Untersuchungsgefängnis im Holstenglacis Nr. 3 adressiert.

Am 10.12.1935 fand der erste von 24 Prozessen gegen „Offenborn und Andere“ statt. Offenborn war ein KPD-Mann aus Elmshorn, unter den „Anderen“ war auch Victor Andersen. Insgesamt gab es 269 Angeklagte und 261 Verurteilte aus dem Kreis Pinneberg, davon 31 Angeklagte aus Uetersen. Nicht das Gericht musste die Schuld des Angeklagten beweisen, wie es heute üblich ist, sondern das Recht war verdreht: Der Angeklagte musste seine Unschuld beweisen. Die Menschen wurden in höchstens zwei Tagen abgeurteilt, wobei die Hauptverhandlung nur wenige Stunden in Anspruch nahm.[60]
Schon drei Tage nach dem ersten Offenborn-Prozess, am 13. Dezember 1935, fand Victor Andersens Prozess vor dem „3. Strafsenat des Kammergerichts Berlin“ in Hamburg statt, im Strafjustizgebäude am Sievekingplatz. Laut Anklageschrift warf man ihm vor, seit Februar 1933 illegal mit der KPD zusammengearbeitet zu haben, indem er mehrmals zu gemeinsamen Versammlungen gegangen sei, die Bildung von Fünfergruppen zugesagt und dafür Mitgliedsmarken abgerechnet habe. Das Verstecken von zwei Schreibmaschinen der KPD sowie die Mitarbeit an etwa acht Flugblättern und die Weitergabe von acht Zeitungen wurden ihm als Förderung der „hochverräterischen Ziele der illegalen KPD“ zur Last gelegt. Auch sollte er etwa zehn Reichsmark an Beiträgen abgerechnet haben.[61]
Was in einem demokratischen Staat als Wahrnehmung der normalen Bürgerrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. gilt, wurde von der NSDAP zum schweren Verbrechen erklärt: „Vorbereitung zum Hochverrat“.[62] Victor Andersen wurde am 16. 12.1935 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.[63] Die „bürgerlichen Ehrenrechte“ wurden ihm für die Dauer der Strafe aberkannt. Er konnte in seinem Prozess den Mitstreiter Paul Pentz entlasten.[64] Mit dem Besitz einiger gefundener Waffen (zwei Pistolen, zwölf Gewehre, einige Einzelteile) sowie von Munition wurde Victor Andersen nicht in Verbindung gebracht.
Nach der Verurteilung kam er zunächst ins Zuchthaus Rendsburg, dann wieder nach Hamburg, wo er 13 Wochen in Einzelhaft eingesperrt war, dann wieder nach Rendsburg, wo er in der Wäscherei arbeitete. Die Familie wusste zeitweise nicht, wo er sich aufhielt und durfte ihm von April bis September 1936 nur einen Brief pro Monat schreiben – ins Straflager VII, Esterwegen, im Emsland. Dort mussten die Häftlinge Torf stechen, das Land entwässern und Straßen anlegen. In einem benachbarten Lager entstand das „Lied von den Moorsoldaten“. Im Gegensatz zu manchen ehemaligen KZ-Häftlingen, die über ihre Erlebnisse geschwiegen haben, hat Victor Andersen darüber berichtet. Er beschrieb die Einlieferung ins KZ Esterwegen, bei der die Gefangenen kriechen mussten und geschlagen wurden, erzählte von der schweren Arbeit beim Torfstechen und den sinnlosen Schikaneaufgaben, von der Begegnung mit Carl von Ossietzky, von Prügelstrafen und von Erschießungen, die er miterlebt hat.[65]
Danach wurde er bis 1939 ins Strafgefangenenlager II/ Baracke 5 verlegt, genannt „Aschendorfermoor“, ebenfalls eines der Emslandlager. Dort waren auch mehrere seiner Uetersener Mitstreiter eingesperrt, u.a. Josef Kristen und Arthur Sorg. Während seiner Haftzeit im Lager Aschendorfermoor schrieben ihm seine Schwester Doris und seine Mutter Emmy zuerst monatlich – später häufiger – Briefe und schickten viele Karten, u.a. mit Ansichten von Uetersen und Hamburg; auch sein Vater und die Brüder sandten Grüße. Die Briefe und Karten tragen alle den Stempel „Zensiert“. Informationen gelangten z.T. sehr schnell nach Uetersen: Schon zwei Tage nach dem Tod von Arthur Sorg nahm Emmy Andersen in einem Brief an ihren Sohn Bezug darauf. Arthur Sorg war wegen der Vernachlässigung durch den Lagerarzt an seinem Herzleiden verstorben.[66] Mehrfach bedankte die Mutter sich für Victors „langen Brief“, d.h. er konnte nicht nur Briefe erhalten, sondern auch beantworten und offenbar seine Briefe im Lager aufbewahren, sodass sie Zeugnis ablegen von der seelischen und gelegentlich materiellen Unterstützung durch die Familie. Seine eigenen Briefe konnten bisher nicht aufgefunden werden.
Vor Victor Andersens Inhaftierung hatte sein Monatslohn rund 167 Reichsmark betragen, aber als er eingesperrt war, hatte er während der ganzen drei Jahre und zwei Monate kein Einkommen.[67] Ungeklärt ist, wovon seine Familie lebte.

Die Geburt der zweiten Tochter und seine Heirat hatten schon in die Zeit seiner illegalen Aktivitäten gegen das Naziregime stattgefunden. Seine Familie lebte damals in der Heinrich-Schröder-Str. 10. Aber die Kinder waren häufig bei den Großeltern im Großen Sand Nr. 50, wie Emmy Andersen ihrem Sohn in Briefen berichtete.[68] Sie beklagte nun die Behandlung der Kinder durch deren Mutter Minna. Zwischen den Eheleuten hatte während ihrer Trennung eine Entfremdung stattgefunden, und Victor Andersen beantragte die Scheidung. Am 13.8. 1938 wurde die Ehe vom Landgericht Itzehoe rechtskräftig geschieden.[69] Die Kinder wurden ihm zugesprochen und nach der Scheidung im Rahmen der „Kinderlandverschickung“ zunächst nach Bayern oder Österreich geschickt. Nach ihrer Rückkehr blieb Hilde bei den Großeltern, Emmi kam zu einer befreundeten Frau Jeppson.[70]
Familie, Freunde und Kollegen sahen mit großen Erwartungen dem Tag von Victor Andersens vorgesehener Entlassung aus der Haft entgegen: Am 16. Januar 1939 sollte er wieder frei sein. Allerdings drohte im „Dritten Reich“ politischen Gefangenen, die ihre Haftzeit überlebt hatten, anschließend die fortgesetzte Freiheitsberaubung ohne Prozess in einer sogenannten Schutzhaft. Dies blieb ihm erspart, weil sein früherer Chef Max Hatlapa ihn für seinen Betrieb anforderte und gleich wieder einstellte, und zwar mit einem höheren Verdienst als vor der Haftzeit.[71] Hatlapa produzierte u.a. Schiffsausrüstungen, und Victor Andersen wurde als wichtige Arbeitskraft deklariert.[72]
1939 waren die beiden Töchter Hilde und Emmi fast sieben, bzw. sechs Jahre alt. Besonders Hilde hatte die vergangenen Ereignisse nicht gut verkraftet.[73] Im Jahr 1941 verlor sie ihre Großmutter Emmy Andersen.[74] Victor gründete eine neue Familie: Am 1. Mai 1942 fand seine Hochzeit mit Elli Marianne Magdalene Richlich statt.[75] Und zwei Monate später wurde seine dritte Tochter, Marlies Andersen, geboren.[76] Die Familie wohnte zu der Zeit in der Kleinen Twiete 33. Noch bevor die vierte Tochter, Dagmar Andersen, am 29. August 1943 geboren wurde,[77] nahm sein Leben eine weitere Wende:
Victor Andersen wurde kurz vorher, am 5. Juni 1943, zum Dienst in einem der „Bewährungsbataillone 999“ einberufen.[78] Bis dahin galten zu einer längeren Zuchthausstrafe Verurteilte als „wehrunwürdig“, aber die Wehrmacht hatte 1943 bereits so viele Soldaten verloren, dass auch die „Politischen“ eingezogen wurden. In den umgangssprachlich sogenannten Strafbataillonen 999 sollten sich außer Kriminellen ehemalige politische Gefangene „bewähren“. Der Historiker H.P. Klausch nimmt die Zahl von etwa 8000 politischen Gefangenen in den „Bewährungsbataillonen“ an. Er recherchierte, dass manche versuchten, sich in Widerstandsgruppen von drei bis zehn Mann zu organisieren. Sie waren an Sabotageakten beteiligt und liefen auf dem Balkan und in Griechenland in großer Zahl auf die Seite des Gegners über. Innerhalb der Wehrmacht besetzten sie bevorzugt Posten mit der Möglichkeit, Nachrichten weiterzugeben – als Melder, Offiziersbursche oder Fahrer des Kommandeurs.[79]
Victor Andersen erhielt am 17. August 1943 im „Ersatz- und Ausbildungsbataillon 999“ einen „Wehrmacht-Führerschein“.[80] Er war Fahrer des Kommandeurs Oberleutnant Polte vom 8. Bataillon/ 4. Kompanie 999.[81] Seine Einsatzgebiete lagen auf Korfu und in Albanien.[82] 1944 wurde ihm seine „Wehrwürdigkeit wiederverliehen“.[83] Er hatte den Rang eines Gefreiten und erhielt während dieser ganzen Zeit nur 365 Reichsmark Sold.[84] Die Firma Hatlapa ließ 1944 „Kamerad Andersen“ in einem Brief an die Front wissen, dass ihm eine Prämie von 100 Reichsmark zugedacht war – als Belohnung für eine von ihm vorgeschlagene technische Verbesserung.[85] Da in Elmshorn manche, die Familien inhaftierter Nazigegner unterstützten, bestraft wurden, ist diese Zuwendung – fünf Jahre nach der technischen Verbesserung – möglicherweise extra so deklariert worden. Auch in dem Strafbataillon war er zusammen mit Josef Kristen aus Uetersen.[86] Heinrich Busch (SPD und Reichsbanner) und Bruno Gersch waren ebenfalls bei den 999ern. Während seiner Militärzeit machte Victor eine Ausbildung zum Sanitäter und war in dieser Eigenschaft tätig.[87]
Aus dieser Zeit sind keine Briefe der Familie erhalten, sodass nicht sicher ist, ob er von der erneuten Verhaftung seines Vaters erfahren hat. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden in einer Terrorwelle, von den Nazis „Gewitteraktion“ genannt, u.a. die Mitglieder der ehemaligen SPD-Rathausfraktion verhaftet und ins KZ Neuengamme gebracht, unter ihnen war sein Vater Peter Andersen. Auch Victor Andersens Freund Hans Britten (KPD) war Häftling in Neuengamme und starb am 3.5.1945 auf der bombardierten „Cap Arcona“ in der Neustädter Bucht.[88] Peter Andersen kam kurz vor Kriegsende aus Neuengamme frei und kehrte nach Hause zurück, brachte dabei allerdings den Typhus-Erreger mit.
Im Oktober 1944 eroberten die Briten Korfu, und Victor Andersen kam dort am 9.10. 1944 in britische Gefangenschaft.[89] Er erkrankte an Malaria, von der er annahm, dass sie aus seinem Einsatz in Albanien stammte.[90] Er wurde über Brindisi in ein Lager auf Sizilien gebracht (Stadion von Tarent). Er hatte mehrere Fieberschübe und wurde dort behandelt.[91] Später war er in einem Kriegsgefangenenlager in St. Andrew´s interniert. Dort erhielt er im Januar und Februar 1945 Impfungen gegen Typhus, Paratyphus, Fleckfieber und Pocken.[92] Auch aus dieser Zeit gibt es keine Briefe, sodass nicht sicher ist, ob seine Familie Informationen über ihn hatte.

Der Neuanfang – Die Bundesrepublik Deutschland

Am 5. April 1946 wurde er aus der britischen Gefangenschaft entlassen und erhielt einen ausweisähnlichen Entlassungsschein mit Daumenabdruck. Er meldete sich zehn Tage später auf dem Einwohnermeldeamt Uetersen an.[93] Schon im Jahr 1946 trafen sich ehemalige Inhaftierte aus dem KZ Esterwegen, wie man an einer Einladung zu einer Zusammenkunft der „Torfarbeiter der Stadt Uetersen“ ins damalige Hotel „Stadt Hamburg“ sehen kann.[94] Er erhielt Briefe ehemaliger Mitkämpfer, u.a. von Heinrich Busch und Bruno Gersch, die in Ägypten auf ihre Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft warteten.
Victor Andersen begann sofort wieder mit der Parteiarbeit in der SPD.[95] So erhielt er im August 1946 zum Beispiel eine Einladung des Kreisverbands der SPD, in Elmshorn ein Referat vor Jusos zu halten. Das Thema: „Wie stellen wir jungen Menschen uns den Aufbau unseres Vaterlandes vor?“[96] Wie sein Sohn war Peter Andersen auch nach dem Krieg wieder politisch aktiv geworden: Er war Vorsitzender des Ortsvereins der SPD bis 1950, danach Bürgervorsteher. Er starb 1953.[97]
In dem Fragebogen der Britischen Militärverwaltung gab Victor Andersen an, dass er Mitglied der SPD sei, seit Mai 1934 Mitglied der KPD (für wenige Monate), dass er von 1941 bis 1943 Mitglied des NSV[98] mit Monatsbeiträgen von 50 Pfennigen gewesen und dass er wegen des Widerstands gegen das Naziregime seiner Freiheit beraubt worden sei. Er erhielt sein „Clearance Certificate“, die Unbedenklichkeitsbescheinigung vom Entnazifizierungsausschuss, am 13. November 1946; vom deutschen „Entnazifizierungs-Hauptausschuß“ erhielt er am 26. Oktober 1948 die Bestätigung. Seine Wohnadresse war 1948 Reeperbahn 3 in Uetersen.

Vom „Komitee der ehemaligen politischen Gefangenen“ bekam er eine Ausweiskarte, in der die Lager Fuhlsbüttel, Esterwegen und Aschendorfermoor aufgeführt sind.[99] Von demselben Komitee erhielt er eine „Betreuungskarte“. Auf einer weiteren Karte wurde die ursprüngliche „Betreuung“ seiner Ehefrau und seiner vier Töchter vermerkt, aber wieder gestrichen.[100] Dort ist auch seine VVN- Mitgliedsnummer angegeben.[101]
Victor Andersen beantragte am 2. August 1949 die Tilgung seiner politischen Strafe bei der Oberstaatsanwaltschaft des Landgerichts Itzehoe aus dem Vorstrafenregister.[102] Ein entsprechender Bescheid liegt nicht vor, aber es ist von einer Tilgung auszugehen, da ihm 1951 der Kreissonderhilfsausschuss Pinneberg seine Anerkennung als „OdN“, d.h. „Opfer des Nationalsozialismus“ bescheinigte.[103] Am 23. September 1949 hatte er einen Antrag auf Haftentschädigung gestellt, entsprechend dem Gesetz vom 2. August 1949. Fast ein Jahr später, am 22. Mai 1950, wurde ihm eine erste Rate zugesagt vom Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein, basierend auf dem Feststellungsbescheid für eine Haftentschädigung vom 22. Mai 1950.[104] Davon konnte er sich ein neues Segelboot für Törns auf der Elbe anschaffen.[105] Er wurde 1952 als Beisitzer zur Mitwirkung beim Oberversicherungsamt bestellt.[106] Dort wurde über die Renten von Opfern des Nationalsozialismus entschieden. Mit seiner eigenen Rente als „OdN“ hatte er lange Zeit Probleme und führte einen Kampf mit den Behörden, der erst 1970 endete, als das politische Klima in Westdeutschland sich geändert hatte.

Zunächst wurde ihm 1951 von der Landkreisverwaltung Pinneberg die Einleitung eines OdN-Rentenverfahren bestätigt.[107] Er hatte die ständigen Rückenschmerzen als Folge der Zeit im Lager und das im Krieg erworbene Malaria-Leiden geltend gemacht, aber im Jahr darauf wurde die OdN-Rente auf Eis gelegt.[108] Anfangs wurde er bis 1962 vom Landesentschädigungsamt immer wieder aufgefordert, die Malaria-Erkrankung überprüfen zu lassen, bis sie schließlich in einem Gutachten abgestritten wurde, womit auch der Rentenanspruch hinfällig würde.[109] Auch seine Atemprobleme und die Verletzung der Wirbelsäule wurden verharmlost und nicht mit Victor Andersens Haftzeit in Verbindung gebracht, sodass er einen langwierigen Prozess anstrengen musste, um seine Ansprüche geltend zu machen.[110] Die Argumentation der Behörde wurde immer spitzfindiger. So wurde angeführt, dass das Lager Aschendorfermoor formal ein Straflager und kein KZ gewesen sei, obwohl die Zustände dort KZ-ähnlich waren.[111] Erst am 18. Februar 1970 wurde ihm in einem gerichtlichen Vergleich eine angemessene Entschädigung zugesprochen.[112] Bemerkenswert ist die Nervenstärke, die er angesichts dieser politisch motivierten langen Verweigerung bewiesen hat – auch, dass er nicht mit Bitterkeit und Hass auf seine Erfahrungen reagiert hat.

Schon 1946, in dem Fragebogen der britischen Militärverwaltung, hatte Victor Andersen angegeben, dass er die Stellung eines Kreisjugendpflegers anstrebe. Er hatte eigentlich Turn- und Sportlehrer werden wollen, sich aber auf Anraten des Bürgermeisters Wilckens um die Stelle als Jugendpfleger beworben. Er hatte gute Aussichten, weil die englische Besatzungsmacht die Einrichtung der amtlichen Jugendpflege verlangte.[113] Er setzte sich gegen eine große Anzahl von Mitbewerbern durch. Bereits 1946 nahm er seine Arbeit als Kreisjugendpfleger auf.[114] 1952 wurde ihm am 17. September die erfolgreiche Teilnahme an den Lehrgängen für Jugendpfleger gemäß den damals aktuellen Erlassen bescheinigt. Seine ersten Aufgaben als Kreisjugendpfleger waren grundlegend, wie er in einer Rede 1994 erzählte: Er musste sich um die Einrichtung von Sportstätten kümmern, Verbindungen herstellen zu Sportvereinen, Verbänden und Vereinen, zu Ämtern, zu kirchlichen Gruppen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Seine Tochter Anne-Kathrin berichtet von seinen vielen Fahrten mit dem Motorrad, wobei manchmal das kleine, bezopfte Mädchen in seiner Gesellschaft einen Kontrast zu seiner Erscheinung bildete. Er beschaffte Gelder und zog Helfer heran. (Sein erster Helfer war Jürgen Frenzel, damals Student, später Uetersener Bürgermeister). Dabei musste alles mit der englischen Besatzungsmacht ausgehandelt werden. Als Kriegsgefangener hatte er ein anderes Bild von den Engländern gehabt, wie er in einer Rede ausführte. Aber ihre Förderung der Jugendarbeit änderte seine Meinung über sie zum Positiven.[115] Er unternahm sogar Reisen nach England.
1947 wurde der Kreisjugendring Pinneberg gegründet. Außer der Sportförderung gehörte die Jugendpflege ebenfalls zu seinen Aufgaben, z.B. Jugenderholungsmaßnahmen, wie sie im Hörnumer Fünf-Städte-Heim ermöglicht wurden. Auch die Informationsarbeit über gesetzliche Bestimmungen und die „geistig- kulturelle Betreuung der … Jugendlichen außerhalb des Schulunterrichts“ gehörten dazu.[116] 1958 belegte er zusätzlich einen Verwaltungslehrgang für Jugendpfleger.[117] Bis zu seinem Ruhestand 1972 war er als Kreisjugendpfleger und Sportreferent im Kreis Pinneberg tätig.[118] Er erfuhr wegen seines Engagements zahlreiche öffentliche Ehrungen, z.B. wurde die Jugendbildungsstätte in Barmstedt posthum nach ihm benannt. Er förderte u.a. den „Musikzug der Rosenstadt Uetersen“, der zu seinem 80. Geburtstag aufspielte. Allerdings beherrschte er selbst kein Instrument, wenn auch seine musikbegeisterte Mutter ihm gerne das Geigenspiel nahegebracht hätte.[119]
Im Februar 1976 verstarb in Uetersen Victor Andersens Ehefrau Elli Marianne, von der er schon seit Jahren getrennt gelebt hatte.[120] Erst dann heiratete er am 23. Dezember 1976 seine langjährige Lebensgefährtin Hildegard Waltraute Grosse, mit der er seit 1960 im neu erbauten Haus in Prisdorf wohnte.[121] Ihre gemeinsame Tochter Anne-Kathrin war schon am 11. Juli 1955 geboren worden und berichtet von einer glücklichen Kindheit in ihrem Elternhaus. Ihre Eltern hatten bereits 1949 als Betreuer von Jugendgruppen in Hörnum/Sylt zueinander gefunden. Waltraute Andersen arbeitete bis 1977 bei der Kreisverwaltung Pinneberg, was einige Zeit unterbrochen worden war, weil man in den 50er Jahren eine Frau mit einem unehelichen Kind in einem Verwaltungssekretariat nicht duldete.[122] In dem eigenen Haus, Rethwisch 20, in Prisdorf kam die Familie zur Ruhe.
Nach Ende seiner beruflichen Arbeit war Victor Andersen allerdings sehr aktiv an politischen Vorträgen und Schriften beteiligt, z.B. an einem Treffen zur Eröffnung der Gedenkstätte KoLaFu 1987, an einem „Sonntagsgespräch“ im Dokumentenhaus des ehemaligen KZ Neuengamme 1988 und an einem Buch des VVN über drei Pinneberger Nazigegner 1989.[123] Auch an Schulen berichtete er von seinen Erfahrungen, so bei einer Projektwoche an der KGSE in Elmshorn. Zu dem Verfasser der Dissertation über die „999“, H.P. Klausch unterhielt er einen Briefkontakt. In zahlreichen Zeitungsartikeln wurde über seine Aktivitäten berichtet. 1984 wurde er für 60 Jahre Mitgliedschaft in der SPD geehrt. Auf dem Empfang, den er an seinem 80. Geburtstag 1987 gab, würdigte ihn der Vorsitzende Tüting des TSV Uetersen als „Mann der ersten Stunde“ im Sportbereich: seit 68 Jahren aktiv.[124]
Victor Andersen starb mit 87 Jahren am 31. Mai 1995 in Uetersen[125] . Wenige Tage vorher hatte er noch in Elmshorn und vor SPD-Mitgliedern im Pinneberger Rathaus Vorträge zum 50. Jahrestag des Kriegsendes gehalten. Er war nicht nur ein Opfer des Nationalsozialismus, sondern hat auch seine Eigenschaft als Zeuge sehr ernst genommen. In dem Zeitungsbericht wird er mit den Worten zitiert: „Wir müssen unsere Erfahrungen mit dieser unheilvollen Vergangenheit an die Jugend weitergeben, um sie vor einer Wiederholung des Terrors in Deutschland zu bewahren![126]

Autorin: Sigrid Kaßbaum, Uetersen, August 2020

Veröffentlicht von Erhard Vogt am

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