Eine Gruppe, die ähnlich wie die Juden aus „rassischen“ Gründen ausgegrenzt wurden, waren die als „Zigeuner“ diffamierten Sinti und Roma. Vorurteile gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe waren bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in der Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet und wurden in der NS-Zeit forciert. Die Stigmatisierung spiegelte sich in der Rechtsprechung und im staatlichen Handeln wider und verfolgte das Ziel, die „Zigeuner“ als gesellschaftliche unerwünschte Gruppe zu beseitigen. Maßnahmen wie die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ durch die Polizei 1937 und die Aktionen gegen „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ 1938, in dessen Rahmen unliebsame Personen auch ohne richterlichen Beschluss verhaftet und in einem Konzentrationslager überführt werden konnten, wandten sich auch gegen Sinti und Roma.
Mit dem Ausbruch des Krieges radikalisierte der NS-Staat die Verfolgung der „Zigeuner“. Nun sollten Sinti und Roma endgültig aus ihrer Heimat vertrieben und in die besetzten Ostgebiete deportiert werden. Erstmals wurden auf Anordnung Himmlers am 16. Mai 1940 reichsweit 2.330 Sinti und Roma, darunter 550 aus Hamburg und 200 aus Schleswig-Holstein, von der Kriminalpolizei festgenommen und zunächst in Sammellagern interniert. Am 20. Mai 1940 wurden die norddeutschen, in einem Fruchtschuppen des Hamburger Hafens zentral untergebrachten „Zigeuner“ mit Güterwagons in das „Generalgouvernement“ Polen gebracht, wo sie im Konzentrationslager Belzec Zwangsarbeit vollrichten mussten.[1]
Einen Tag nach dieser Deportation zog die 35-jährige Anna Kreuz nach Quickborn, die als „Zigeunerin“ seitens der Kriminalpolizei anscheinend nicht für die Deportation vorgesehen war. Anna Kreuz wurde 1905 im hessischen Hechtheim als Tochter eines Geigenbauers[2] und einer Artistin geboren, war in einer Großfamilie aufgewachsen und besuchte vom 6. bis zum 12. Lebensjahr die Volksschule.[3] Sie war Händlerin und bezog eine entlegene Unterkunft an der stillgelegten Margarinenfabrik im Fabrikweg in der Nähe des Elsensees. Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Quickborn bemühte sie sich beim Standesamt um eine Heirat mit dem aus Hamburg-Altona stammenden Kraftffahrer Erich Krause. Da dieser als Schütze im Dienst der Wehrmacht stand und ortsabwesend war, wurde am 31. Juli 1940 vor dem Standesamt Quickborn nach der von der Armee erteilten Heiratserlaubnis eine Ferntrauung vorgenommen. Als Trauzeugen zugegen waren zwei Nachbarn aus dem Fabrikweg. Im Vorwege hatte Anna Kreuz im Rahmen des Aufgebots Angaben über ihre „rassische Einordnung“ und die Staatszugehörigkeit zu machen.[4] Da sie als „Zigeunerin“ nach dem „Reichsbürgergesetz“ vom 15.09.1935 staatenlos war[5] und nach dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“)[6] und dem „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“ („Eheschutzgesetz“)[7] keinen „arischen“ deutschen Staatsangehörigen heiraten konnte, verheimlichte sie gegenüber dem Standesamt wesentliche Informationen. Bereits ein Jahr vorher hatte sie sich in Hamburg erfolglos darum bemüht, vom Gesundheitsamt ein Ehetauglichkeitszeugnis ausgestellt zu bekommen, wie dieses seitens des „Eheschutzgesetzes“ für eine Heirat verlangt wurde.[8]
Der Quickborner Standesbeamte Philipp Spilger hingegen, dem die Angelegenheit mit den fehlenden Unterlagen anscheinend unverdächtig vorkam, begnügte sich mit einer eidesstattlichen Versicherung der Heiratsaspirantin, die angab, „deutschblütig“ zu sein und folgende Erklärung unterschrieb: „Es ist mir bekanntgegeben, daß Eheschließungen zwischen Juden sowie anderen Personen artfremden Blutes und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verboten sind. (…) Ich, die Verlobte, versichere, daß ich deutschen bzw. artverwandten Blutes bin. Meine leiblichen Eltern und Großeltern sind deutschblütig und gehörten niemals der jüdischen Religion an.“ [9]
Ungefähr vier Monate nach der vollzogenen Heirat erreichte dem Standesbeamten Spilger ein Schreiben einer Abteilung der Kriminalpolizeileitstelle Hamburg, die im Rahmen des am 08.12.1938 von Himmler verkündeten Runderlasses „Bekämpfung der Zigeunerplage“ mit der Erfassung von „Zigeunern“ zuständig war. Hinsichtlich Anna Krause geborene Kreuz, die anscheinend als „Zig. Nr. 578“ registriert war, bat die Polizei zwecks Personennachprüfung um ausführliche Abschriften aus dem Heiratsregister und Nachweise der angegebenen Staatsangehörigkeit. Spilger meldete zurück, dass die Staatsangehörigkeit seinerzeit nicht nachgewiesen wurde und die Verlobte stattdessen die Erklärung abgab, dass sie deutsche Staatsangehörige sei. Weiterhin erklärte er: „Dass die ferngetraute Frau Krause g.F. [gegebenenfalls, d. Verf.] aus einer Zigeunerfamilie stammt, war und ist mir nicht bekannt.“ [10] Wenig später ging der Standesbeamte Spilger, der im November 1929 der NSDAP beitrat[11] und zugleich auch als Gemeindeschulze (Bürgermeister) der Gemeinde tätig war,[12] der Sache genauer nach. Er schrieb die Standesämter an, die zuständig für die von Anna Krause angegebenen Geburtsorte ihrer Eltern waren, um sich Gewissheit über die „rassische“ Herkunft zu verschaffen. Aus beiden Standesämtern traf die Nachricht ein, dass die gesuchten Personeneinträge in dortigen Unterlagen nicht aufgeführt waren. Lediglich der Pfarrer des evangelischen Pfarramtes Dörsdorf, dem die Anfrage weitergeleitet wurde, meldete zurück: „Die Sippe Kreuz hat mir schon viel Kopfzerbrechen gemacht. Es ist eine Zigeunerfamilie, die wohl in Mudershausen beheimatet aber nur die wenigste Zeit des Jahres dort wirklich ansässig war. Sie war ein fahrendes Volk, das bald hier bald dort eine Bleibe fand. (…) Das rassepolitische Amt in Berlin-Dahlem hat vor Jahren eingehende Nachforschungen angestellt. Sicherlich kann Ihnen dasselbe auch in Ihrer Angelegenheit Auskunft geben.“ [13]
Gegen die verehelichte Anna Krause, die inzwischen wieder nach Hamburg-Altona verzogen war, wurde beim Landgericht Hamburg eine Anklage vorbereitet, da, so die Gemeindeverwaltung der Hansestadt Hamburg in einem Schreiben vom 26. März 1942 an das Standesamt Quickborn, „in diesem Falle der Verdacht einer Eheerschleichung besteht„.[14] Der Ausgang des Verfahrens ist anhand der vorhandenen Dokumente nicht erkennbar. In der Nachkriegszeit gab Anna Krause gegenüber der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) an, dass sie von der Polizei aufgefordert wurde, Hamburg nicht zu verlassen und eine Einwilligungserklärung für eine Sterilisation zu unterzeichnen hatte, andernfalls sie einem Konzentrationslager überführt werden sollte. Sie unterzeichnete daraufhin die Erklärung, entzog sich dann jedoch der zwangsweisen Sterilisation und der drohenden Verhaftung durch Flucht. Bis zur Kapitulation lebte sie illegal an verschiedenen Orten in der Nähe von Hamburg und in Bahrenfeld und überlebte die Zeit des Nationalsozialismus. Drei Brüder und die Mutter hingegen verstarben in Auschwitz.[15]
Über Ihre Heirat berichtete Anna Krause der VVN: „Ich, Anna Krause … bin am 29.4.05 geboren und galt als staatenlos, da ich rassisch als Zigeuner geführt wurde. Am 31.7.40 heiratete ich in Quickborn meinen jetzigen Ehemann, um dadurch deutsche Staatsbürgerin zu werden und einer Verfolgung durch den Nationalsozialismus zu entgehen.“ [16]