Stol­per­stei­ne in Elms­horn: Hein­rich Sibbert Op­fer der „Eu­tha­na­sie“ – der Mord an Kran­ken und Be­hin­der­ten

Heinrich Gottlob Friedrich Sibbert wurde Opfer der NS-Euthanasie (Bild: privat)
Reichsgesetzblatt vom 25. Juli 1933 mit der Verkündung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Quelle: landesarchiv-bw.
9. Juli 1941
Fuchs­ber­ger Al­lee 22, Elms­horn

Ein Stolperstein für Heinrich Sibbert, Opfer der „Euthanasie“ – der Mord an Kranken und Behinderten

Von Gi­se­la Han­sen

Fuchs­ber­ger Al­lee 22 – die­ses Grund­stück di­rekt ne­ben den Glei­sen der AKN ist vie­len Elms­hor­nern durch sei­nen lie­be­voll ge­stal­te­ten Gar­ten be­kannt: au­ßer Pflan­zen sind dort auch Nach­bil­dun­gen ver­schie­de­ner Ge­bäu­de, z.B. des Ham­bur­ger Mi­chel, zu be­wun­dern.

Vor die­sem Haus soll am 15. April 2008 von dem Köl­ner Künst­ler Gun­ter Dem­nig ein Stol­per­stein zum Ge­den­ken an Hein­rich Gott­lob Fried­rich Sibbert ver­legt wer­den, der hier sei­ne Kind­heit und Ju­gend ver­brach­te und im Al­ter von 34 Jah­ren ge­tö­tet wur­de, weil er un­heil­bar krank war.

Dies fand der Ar­beits­kreis Stol­per­stei­ne nach län­ge­ren Re­cher­chen jetzt mit Hil­fe des Ber­li­ner His­to­ri­kers Dr. Ha­rald Jen­ner her­aus. Sibberts Nef­fe Hans-Hein­rich, der jetzt im Haus sei­ner Groß­el­tern wohnt, war nach kur­zem Zö­gern be­reit, die Ak­ti­on zu un­ter­stüt­zen.

„Vie­le Ein­zel­hei­ten zum Le­bens­weg von On­kel Hei­ni kann ich lei­der nicht bei­tra­gen“, er­zählt der pen­sio­nier­te Be­rufs­schul­leh­rer, „aus der vo­ri­gen Ge­ne­ra­ti­on lebt nie­mand mehr und über sein schreck­li­ches Schick­sal wur­de in mei­nem Bei­sein al­len­falls in An­deu­tun­gen ge­spro­chen“.

Hein­rich Sibbert wur­de am 6. Ok­to­ber 1906 in Elms­horn ge­bo­ren. Sei­ne El­tern Hein­rich Mar­cus Sibbert und Anna Ca­tha­ri­na, geb. Schil­ling, hat­ten noch fünf wei­te­re Kin­der: Her­mann, Emma, Ernst, Anni und Hans. Va­ter Sibbert war Mau­rer, und auch Hein­rich er­lern­te die­ses Hand­werk.

Nach ei­ner im Bun­des­ar­chiv in Ber­lin auf­be­wahr­ten Akte kam er 1934 in die da­ma­li­ge „Pro­vin­zi­al- Heil- und Pfle­ge­an­stalt“ Neu­stadt. Nef­fe Hans-Hein­rich, Jahr­gang 1937, er­in­nert sich an ein Foto, auf dem er als klei­ner Jun­ge mit On­kel Hei­ni auf dem groß­el­ter­li­chen Hof zu se­hen ist. „Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass er ir­gend­wie krank war; spä­ter hieß es, er habe ei­nen Un­fall ge­habt.“

Die Vor­stel­lung, dass un­heil­ba­re kran­ke Men­schen kein Recht auf Le­ben hät­ten, ja dass es ge­ra­de­zu zur Pflicht wer­den kön­ne, sie zu tö­ten, hat­te schon lan­ge vor der „Macht­er­grei­fung“ der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten vie­le An­hän­ger, auch un­ter an­ge­se­he­nen Ju­ris­ten und Ärz­ten. Man war der Mei­nung, dass die Fort­schrit­te in Me­di­zin und So­zi­al­für­sor­ge der „na­tür­li­chen Aus­le­se“ schwa­cher und nicht le­bens­tüch­ti­ger Men­schen ent­ge­gen­stün­den.

Die­se Men­schen wur­den als „lee­re Men­schen­hül­sen“ an­ge­se­hen, für die der straf­recht­li­che Schutz nicht gel­te; es wur­de un­ter­stellt, dass sie sich nach „Er­lö­sung“ sehn­ten. Wirt­schaft­li­che Ar­gu­men­te ka­men hin­zu („Bal­las­texis­ten­zen“, „nutz­lo­se Es­ser“).

Als die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten an die Macht ka­men, zo­gen sie aus der theo­re­ti­schen Un­ter­schei­dung zwi­schen le­bens­wer­tem und le­bens­un­wer­tem Le­ben die töd­li­chen Kon­se­quen­zen: zu­nächst durch ge­setz­lich an­ge­ord­ne­te Zwangs­ste­ri­li­sie­run­gen, von de­nen mehr als 350.000 Men­schen be­trof­fen wa­ren, spä­ter durch mas­sen­haf­tes Tö­ten von Kran­ken und Be­hin­der­ten. Sie ver­wen­de­ten da­für das aus dem Alt­grie­chi­schen stam­men­de Wort „Eu­tha­na­sie“, das ei­gent­lich „gu­ter Tod“ be­deu­tet.

Die Tö­tungs­ak­tio­nen wer­den in der Rück­schau nach den or­ga­ni­sa­to­ri­schen Rah­men­be­din­gun­gen in vier Ab­schnit­te ein­ge­teilt; Hein­rich Sibbert ge­hört zu den Op­fern der im Ok­to­ber 1939 ein­ge­lei­te­ten“ Ak­ti­on T4“.

Die An­stalt in Neu­stadt er­hielt wie alle psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken Mel­de­bö­gen zur Er­fas­sung schwer­kran­ker Pa­ti­en­ten. Alle Men­schen, die wie Hein­rich Sibbert län­ger als fünf Jah­re in der An­stalt ge­lebt hat­ten, muss­ten ohne Rück­sicht auf das Krank­heits­bild ge­mel­det wer­den. Auf­grund der schrift­li­chen An­ga­ben der Kli­ni­ken ent­schie­den dann Gut­ach­ter über Tod und Le­ben der Pa­ti­en­ten, ohne sie ge­se­hen zu ha­ben.

Hein­rich Gott­lob Fri­d­rich Sibbert wur­de Op­fer der NS-Eu­tha­na­sie.

Die­je­ni­gen, de­nen das Le­bens­recht ab­ge­spro­chen wur­de, wur­den in eine von sechs Tö­tungs­kli­ni­ken ge­bracht und dort mit Gas um­ge­bracht.

Hein­rich Sibbert starb am 9. Juli 1941 in der Tö­tungs­an­stalt Bern­burg / Saa­le; ver­mut­lich zu­sam­men mit 92 wei­te­ren Pa­ti­en­ten, die am 13. Juni 1941 aus Neu­stadt zu­nächst in die „Zwi­schen­an­stalt“ Kö­nigs­lut­ter ge­bracht wor­den wa­ren.

Die sys­te­ma­ti­sche Nut­zung von „Zwi­schen­an­stal­ten“ dien­te dazu, die „Ka­pa­zi­tä­ten“ der sechs Tö­tungs­zen­tren zu steu­ern und et­wai­ge Nach­for­schun­gen von Ver­wand­ten zu er­schwe­ren. Meis­tens wur­de den Fa­mi­li­en mit­ge­teilt, dass ihr An­ge­hö­ri­ger an ei­ner Krank­heit (z. B. Herz­schwä­che) ge­stor­ben sei und es wur­den Ur­nen, ge­füllt mit Asche von ver­schie­de­nen Op­fern, über­sandt.

Nach Hans-Hein­rich Sibberts Er­in­ne­rung ha­ben sei­ne Groß­el­tern wäh­rend des Kriegs von dem schreck­li­chen Schick­sal ih­res Soh­nes nichts er­fah­ren. Vor al­lem die Groß­mut­ter habe die Hoff­nung auf ein Wie­der­se­hen erst auf­ge­ge­ben, als sie nach Kriegs­en­de das amt­li­che Schrei­ben mit der To­des­nach­richt be­kam.

Bei der“ Ak­ti­on T4“ ka­men mehr als 70.000 Men­schen ums Le­ben, bei der zwi­schen 1939 und 1945 durch­ge­führ­ten „Kin­de­reutha­na­sie“ min­des­tens 5.000 Kin­der. Der „Ak­ti­on 14 f 13“ (Se­lek­ti­on nicht ar­beits­fä­hi­ger KZ-Ge­fan­ge­ner) fie­len min­des­tens 15.000 Men­schen zum Op­fer).

Die straff und zen­tra­lis­tisch or­ga­ni­sier­te Ak­ti­on T4 war von Hit­ler im Au­gust 1941 ge­stoppt, wor­den, u. a. wohl we­gen des sich re­gen­den Pro­tes­tes aus den Kir­chen. Ein Teil des ver­ant­wort­li­chen Per­so­nals wur­de in die in Po­len er­rich­te­ten Ver­nich­tungs­la­ger ver­legt.

Die über­le­ben­den In­sas­sen der Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten blie­ben den­noch nicht ver­schont: im Zuge der „Ak­ti­on Brandt“ (be­nannt nach Hit­lers „Be­gleit­arzt“) wur­den sie teils in ih­ren „Hei­mat­kli­ni­ken“, teils nach De­por­ta­ti­on durch Über­do­sie­rung von Me­di­ka­men­ten, Ver­hun­gern las­sen oder auch durch Luft- oder Ben­zin­ein­sprit­zun­gen um­ge­bracht.

Da jetzt – im Un­ter­schied zur „Ak­ti­onT4“ – kein bü­ro­kra­ti­scher Auf­wand mehr ge­trie­ben wur­de, ist die Zahl der Op­fer schwer zu schät­zen. Nach An­ga­ben von Fach­leu­ten sol­len es aus Schles­wig-Hol­stein min­des­tens 3.000 Per­so­nen ge­we­sen sein.

Paten des Stolpersteines für Heinrich Sibbert sind Gisela und Dieter Hansen

In­schrift:

HIER WOHNTE

HEINRICH SIBBERT

JG. 1906

EINGEWIESEN

HEILANSTALT BERNBURG

ERMORDET

9.7.1941

 

 

Hin­zu­ge­fügt von R. Arendt 26.05.2013

 

 

 

Veröffentlicht von Rudi Arendt am

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