Straßenbenennungen nach Personen sind öffentliche Auszeichnungen und Aufwertungen der betreffenden Person. Die Stadt ehrt die aus ihrer Sicht vollbrachten Leistungen des Namengebers und platziert hierdurch zugleich ein Vorbild in der lokalen Erinnerungskultur.
Dass auch nach der Kapitulation von 1945 in Quickborn weiterhin eine Straße nach Heinrich Lohse benannt blieb, lässt darauf schließen, dass die verantwortlichen Stadtväter der Nachkriegszeit wenig Neigung verspürten, die Ehrungen örtlicher Honoratioren einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Die Heinrich-Lohse-Straße liegt mitten in der Stadt Quickborn. Vorwiegend Einfamilienhäuser säumen diese Straße, die von der einstigen Adolf-Hitler-Straße, dem heutigen Harksheider Weg,[1] gekreuzt wird und in die die ehemalige Gneisenaustraße (heute Goethe-Straße,[2]) und die einstige Scharnhorststraße (heute Amselweg,[3]) einmünden. Doch wer war Heinrich Lohse, an den diese Straße erinnert?
Heinrich Lohse war ein gebürtiger Quickborner. Er wurde am 23. Juli 1866 als Sohn des Kaufmanns Andreas Lohse geboren. Nach dem Schulbesuch wurde er Landwirt und unterbrach die Berufstätigkeit in den Jahren 1885 bis 1888 für den Militärdienst bei dem 15. Husaren-Regiment am Garnisonsstandort Wandsbek.[4] Sein Wohnhaus befand sich in der Ellerauer Straße auf dem Grundstück der heutigen Ernst-Barlach-Schule.[5]
Am 1. Juni 1902 wurde Heinrich Lohse mit 35 Jahren Gemeindevorsteher der damals fast 1.900 Einwohner[6] zählenden Landgemeinde. Nachdem er 1910 auch das Amt des Amtsvorstehers übernommen hatte, trat er ein Jahr später als Gemeindevorsteher zurück.[7]
Amtsvorsteher hatten auf der lokalen Ebene polizeiliche Angelegenheiten auszuüben, die damals noch in kommunaler Verantwortung lagen. Nach der Einführung der Kreisordnung von 1888 wurden in Schleswig-Holstein jeweils mehrere benachbarte Landgemeinden zu einem Amtsbezirk zusammengefasst, für die ein vom Landrat eingesetzter Amtsvorsteher, oftmals ein Gemeindevorsteher des Bezirks, zuständig war.[8] Der Amtsbezirk Quickborn umfasste neben der Landgemeinde auch den Ort Friedrichsgabe und einen Teil des Forstgutsbezirks Pinneberg.[9] In den späteren Jahren kam das Dorf Hasloh hinzu.[10]
Heinrich Lohse zählte zu den lokalen Honoratioren der Landgemeinde Quickborn. Seine große Zeit war, wie er rückblickend urteilte, die Kaiserzeit.[11] Er gehörte mehrere Jahrzehnte der Kirchenvertretung an[12] und war stellvertretender Vorsitzender des örtlichen Kriegervereins.[13] Als Vorsitzender der Ortsgruppe des nach territorialer Expansion und Aufrüstung drängenden „Deutschen Wehrvereins“ rief er die Bürger vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges dazu auf, dem Verein beizutreten und, wie die Presse vermerkte, hierdurch ihre „Vaterlandsliebe“ und „Treue zu Kaiser und Reich“ zu bekunden.[14]
In der Zeit des Ersten Weltkrieges wurde er wegen seines Einsatzes anlässlich der Explosionskatastrophe der Sprengstoffwerke in Quickborn-Heide, bei der mehr als 200 Personen starben,[15] mit dem Verdienstkreuz für Kriegshilfe ausgezeichnet.[16]
Von den politischen Umbrüchen nach dem Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie war auch der Amtsvorsteher als örtliche Polizeigewalt betroffen. Wie in anderen Orten auch, so wird sich vermutlich auch der Quickborner Amtsvorsteher der Kontrolle des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates unterstellt haben müssen.[17] In einem Zeitungsartikel hieß es rückblickend: „Zu den schwersten Zeiten gehörte das Jahr nach dem Kriege, die Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte, als die unvernünftigen Menschen wie wildgewordene Horden alle Ordnung zerstörten und auch dem Amtsvorsteher nicht nur die Amtsschilder von den Wänden rissen, sondern mitten in der Nacht zur Verhaftung schritten und eine Haussuchung nach Waffen vornahmen.“ [18]
Von einer Absetzung als Amtsvorsteher blieb Heinrich Lohse jedoch verschont. Vielmehr übernahm er in den Jahren 1921 und 1922 noch einmal vorübergehend das Amt des Gemeindevorstehers.[19] In dieser Zeit zog Lohse erneut den Protest auf sich: Am 4. Juli 1922 folgten ca. 600 Bürger einem Aufruf der örtlichen Gewerkschaft zur Verteidigung der Republik. Mit einem Umzug steuerten sie hierbei auch das Haus des Amts- und Gemeindevorstehers an. Anlass der Demonstration war die Ermordung des liberalen Reichsaußenministers Walter Rathenau zehn Tage zuvor durch Rechtsextremisten. Dieses tödliche Attentat, dem u.a. die Ermordungen des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) im Februar 1919, des USPD-Vorsitzenden Hugo Haase im November 1919 und des Unterzeichners der Waffenstillstandsvereinbarung Matthias Erzberger im August 1921 vorausgingen, setzte in der gesamten Weimarer Republik das Fanal, sich gegen rechte Putschversuche zur Wehr zu setzen.
Die Demonstranten forderten gegenüber Lohse ein Verbot aller monarchistischen und militaristischen Agitation, die Entfernung aller republikfeindlichen Kräfte in Schule und Verwaltung und ein Verbot des örtlichen „Kampfgenossen- und Kriegervereins“ sowie aller anderen monarchistischen und militaristischen Verbindungen, samt Entwaffnung ihrer Mitglieder. Des Weiteren wurden die Beseitigung aller monarchistischen Büsten, Bilder und Bezeichnungen im Amtsbezirk verlangt, wobei die Demonstranten am Wohnhaus und Amtssitz Lohses bereits selbst Hand anlegten und frühere monarchistische Schilder entfernten, die anscheinend trotz dreijähriger republikanischer Staatsverfassung dort noch befestigt waren.[20]
Ernsthafte Auswirkungen wird dieser politische Protest in Quickborn vermutlich jedoch nicht gehabt haben. Trotz der von den Demonstranten verhängten Frist von drei Tagen blieb der „Kampfgenossen- und Kriegerverein“ weiterhin bestehen und auch Lohse konnte seine Amtsgeschäfte ungestört fortsetzen.
In der Weimarer Republik fühlte sich Heinrich Lohse den konservativen politischen Kräften zugehörig. 1925 kandidierte er auf den Listen des Bürgerblocks, die zur Provinziallandtagswahl unter der Bezeichnung „Wiederaufbau“ und zur Kreistagswahl unter dem Namen „Vaterland“ antraten.[21] Auch bei der nächsten Kreistagswahl 1929 kandidierte er; diesmal für die in weiten Teilen republikfeindliche und antisemitische „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP).[22] Unter den Anhängern der KPD galt er als ein Amtsvorsteher, der Strafvergehen von NSDAP-Anhängern wenig engagiert nachging, während Kommunisten sich zu unrecht der Polizeigewalt ausgesetzt sahen.[23]
Nach der Machtübernahme Hitlers sahen es die örtlichen Nationalsozialisten nicht als erforderlich an, Amtsvorsteher Lohse abzusetzen. Aus seinem Amt ausscheiden tat er im August 1933 nicht aus politischen Gründen, sondern weil er mit seinen 67 Jahren das Pensionsalter erreicht hatte.[24]
Während seiner Amtszeit als Leiter der Ortspolizeibehörde fanden seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst zahlreiche Verhaftungen von politischen Gegnern und Durchsuchungen ihrer Wohnungen statt, darunter am 14. Mai 1933 eine großräumige Razzia im Ortsteil Quickborn-Heide.[25] Unterstützt wurde die Ortspolizeibehörde hierbei von der „Hilfspolizei“,[26] die Ende Februar 1933 von dem preußischen Innenminister Göring ins Leben gerufen wurde und aus Angehörigen der SA, SS und des Stahlhelms bestand.[27]. Bei Übergriffen auf politische Gegner waren die dem Amtsvorsteher unterstellten Ortsgendarmen durchaus anwesend, griffen jedoch nicht in das Geschehen ein, sondern beschränkten allem Anschein nach ihre Tätigkeit darauf, allzu drastische Übergriffe zu unterbinden. So beschädigten im Februar 1933 Nationalsozialisten in Friedrichsgabe die Fahnenstange des SPD-Vorsitzenden Dörner und schmissen anschließend die Fensterscheiben des Hauses des sozialdemokratischen Gemeindevorstehers Klute ein. Die Anwesenheit von Landjägern störte sie nicht.[28]
Als Hilfsorgan der Staatspolizei und der Staatsanwaltschaft war der Amtsvorsteher befugt, bei „Gefahr im Verzug“ Beschlagnahmungen und Durchsuchungen selbstständig anzuordnen und hierbei Gendarmerie-Beamte zur Unterstützung heranzuziehen.[29] Rechtliche Grundlagen der Verhaftungen boten das Vergehen gegen das Schusswaffengesetz und Vorbereitung zum Hochverrat. Darüber hinaus ermächtigte die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933[30] Amtsvorsteher Lohse dazu, auch ohne gerichtliche Beschlüsse gegenüber politischen Gegnern des Regimes „Schutzhaft“ und Aufenthaltsverbote zu verhängen.
In den Quellen erhalten geblieben ist eine Schutzhaftanordnung Lohses im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung des 21-jährigen Maurers Ernst Bornkast mit dem Nationalsozialisten Wülfken, die sich Ende Juni 1933 in Friedrichsgabe ereignete. Wülfken hatte Bornkast auf der Straße mit den Worten “Da steht der Kommunist“ angesprochen, woraufhin sich ein heftiger Wortwechsel entzündete, in dessen Verlauf Wülfken mit einer Stabstaschenlampe nach Bornkast warf. Als er schließlich seine Pistole ziehen wollte, setzte sich Bornkast mit einem Steinwurf zur Wehr und flüchtete.[31] Wülfken zeigte diesen Vorfall polizeilich an. Nach einer gerichtlichen Vernehmung am 3. Juli 1933 wurde Bornkast jedoch nicht verhaftet, vielmehr das Verfahren einige Tage später durch den Oberstaatsanwalt Altona eingestellt. Ungeachtet dessen ordnete Lohse am 6. Juli 1933 eine einwöchige „Schutzhaft“ im Gefängnis Altona an und verfügte anschließend gegenüber Bornkast ein vierwöchiges Verbot, sich in seiner Heimatgemeinde Friedrichsgabe aufzuhalten (siehe Quelle unten).[32]
Anlässlich seines Ausscheidens als Amtsvorsteher ehrten die Nationalsozialisten Heinrich Lohse am 7. August 1933 mit einem abendlichen Fackelzug. Die Presse berichtete: „Ein imposanter Fackelzug, insbesondere die SA., Sanitätskolonne, Helferinnen, NSBO., Hitlerjugend, begleitet von zahlreichen Einwohnern, setzte sich unter Vorantritt der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr von Grabbe aus in Bewegung zur Wohnung des Scheidenden. Nach Ankunft hielt SA.-Führer Ohlweiler eine kurze Ansprache, in welcher er u.a. auf die lange Zeit der Dienstleistung und auf die treue Pflichterfüllung während der schweren Kriegsjahre und zur Zeit der großen Wirren der Nachkriegszeit hinwies. In ein ehrendes Sieg-Heil stimmten alle Teilnehmer ein. Der Amtsvorsteher sagte den Anwesenden warme Worte des Dankes für die gezeigte Ehrung. Er habe versucht, während seiner Dienstzeit allen gerecht zu werden. (…) Die Jahre bis 1914 waren die schönsten im Amt, die 14 Nachkriegsjahre die schwersten, die aber jetzt wohl überwunden sind, nachdem der 30. Januar [Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, d. Verf.] und 5. März [Reichstagswahl, d. Verf.] die Umwälzung brachten. Er forderte alle zur Mitarbeit am begonnenen Werk auf und schloß mit einem dreifachen Sieg-Heil auf das neue Deutschland, den Reichspräsidenten und den Reichskanzler.“ [33]
Vier Tage später, am 8. August 1933, veranstaltete die Gemeindevertretung und der Vorstand der NSDAP in Schmidts Gasthof eine Abschiedsfeier für Amtsvorsteher Lohse, in der NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Schäffer die „treuen Dienste“ Lohses lobte. Von besonderer Überraschung war für den scheidenden Amtsvorsteher die Ankündigung des Gemeindevorstehers Hermann Dölling, eine Straße in Quickborn in Heinrich-Lohse-Straße benennen zu wollen. Lohses Nachfolger, der Nationalsozialist Wilhelm Kolz, betonte, dass mit der Straßenbenennung „eine Ehrung für alle Zeiten“ geschaffen werde.[34] Drei Jahre darauf kam eine weitere Auszeichnung hinzu: Im Juni 1936 beschloss der Gemeinderat im Einvernehmen mit NSDAP-Kreisleiter Schramm, Heinrich Lohse die Ehrenbürgerrechte zu verleihen.[35]
Am 6. Mai 1938 verstarb Heinrich Lohse mit 71 Jahren.[36] Unter großer Beteiligung von Vertretern der Behörden, der nationalsozialistischen Partei und der Kirche wurde der zwischenzeitlich der NSDAP beigetretene Lohse[37] letztmalig geehrt und von „Kameraden“ der „Militärischen Kameradschaft“ zu Grabe getragen.[38]
Heinrich Lohse gehörte nicht zu den frühen Anhängern der nationalsozialistischen Bewegung. Vielmehr zählte er sicherlich zu den Angehörigen der lokalen gesellschaftlichen Elite, die nach der Machtübernahme 1933 eine große Anpassungsbereitschaft zeigten und sich bereitwillig in das NS-Regime integrierten. Sein konservatives Grundverständnis als „treudeutscher Mann“ [39] und seine Aversionen gegenüber der Weimarer Republik werden ihm den Zugang zum Nationalsozialismus erleichtert haben. Nur so ist es zu erklären, dass Heinrich Lohse auch nach der „nationalen Revolution“ in seinem Amt verblieb und die neue, von Nationalsozialisten dominierte Gemeindevertretung eine Straßenbenennung mit seinem Namen beschloss. Die örtliche Parteiführung konnte hierdurch öffentlich demonstrieren, dass auch die alten Eliten den Weg zum Nationalsozialismus fanden.
Mit dem Wissen um die Folgen des NS-Regimes wirkt es heute befremdlich, mit Heinrich Lohse weiterhin einen Unterstützer des Nationalsozialismus mit einer Straßennamensgebung zu ehren. Eine Diskussion über den Umgang mit dieser Straßenbenennung ist aus Sicht des Autors überfällig. Alternativen gibt es zuhauf. Anbieten würde sich z.B. eine öffentliche Ehrung des „Euthanasie“-Opfers Martha Weidmann, die in dieser Straße lebte.