„…durch ei­nen sanf­ten Tod er­löst“ – Paul Thom­sen und die Kran­ken­mor­de in der Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof

Thomsen's Gasthof (ehemals Hagens Gasthof), ca. 1930er Jahre (Foto: J. W. Jacobsen)
Julius und Paul (rechts) Thomsen, ca. 1930er Jahre (Sammlung: Emmi Mandler)
Todesanzeige, Holsteiner Nachrichten 24.05.1944
Mitteilung der Gauheilanstalt Tiegenhof (Bundesarchiv Berlin)
NS-Propaganda-Schaubild (Bildquelle: Benz, Wolfgang (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Berlin 1999.)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jan Decker)
Der Künstler Gunter Demnig bei der Stolperstein-Verlegung, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jan Decker)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jörg Penning)
Stolperstein-Verlegung für Paul Thomsen, Quickborn 01.12.2015 (Foto: Jörg Penning)
14. Mai 1944
Kie­ler Stra­ße 157, Quick­born

Dem na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ras­sen­wahn fie­len nicht nur „art­frem­de“, nicht zum deut­schen Volk ge­zähl­te Per­so­nen, wie Ju­den oder Roma und Sin­ti, zum Op­fer, son­dern eben­falls Deut­sche, die auf­grund ih­rer kör­per­li­chen, geis­ti­gen oder see­li­schen Ver­fas­sung nicht dem „ari­schen Ide­al“ ent­spra­chen und die we­gen ih­rer in­di­vi­du­el­len Ein­schrän­kun­gen und ih­res er­höh­ten Be­treu­ungs­auf­wan­des für die „Volks­ge­mein­schaft“ eine „Be­las­tung“ dar­stell­ten. An­statt hil­fe­be­dürf­ti­gen Men­schen in ih­ren Le­bens­la­gen zu un­ter­stüt­zen, ih­nen bei­zu­ste­hen und sie in ih­rem An­ders­sein an­zu­er­ken­nen, re­agier­ten die Na­tio­nal­so­zia­lis­ten mit Stig­ma­ti­sie­rung und Aus­son­de­rung bis hin zur Ver­nich­tung. Die­ses be­traf eben­so psy­chisch Er­krank­te. Men­schen, die we­gen ei­nes see­li­schen Un­gleich­ge­wich­tes aus der Bahn ge­wor­fen wa­ren und an Leis­tungs­fä­hig­keit ein­büß­ten, wur­den vor­schnell als „erb­krank“ eti­ket­tiert und u.a. mit Hei­rats- und Nach­wuchs­ver­bo­ten be­legt. Auch Quick­bor­ner wa­ren hier­von be­trof­fen – hier­zu ge­hör­te Paul Thom­sen.[1]

Paul Thom­sen wur­de am 24. De­zem­ber 1908 in Barm­stedt ge­bo­ren.[2] Sein Va­ter war der aus Barm­stedt stam­men­de Schlach­ter­meis­ter Ju­li­us Thom­sen.[3] Er wuchs mit vie­len Ge­schwis­tern auf und war der Ältes­te von ins­ge­samt sie­ben Brü­dern. Nach dem 8-klas­si­gen Schul­be­such und der Kon­fir­ma­ti­on lern­te Paul Thom­sen bei sei­nem Va­ter das Schlacht­er­hand­werk, ging an­schlie­ßend auf Wan­der­schaft und ar­bei­te­te u.a. in Trit­tau, Nahe und Ham­burg als Fleisch­ver­käu­fer und Schlach­ter. In der Schul­zeit galt Paul Thom­sen als gu­ter Schü­ler und auch in sei­ner Er­werbs­tä­tig­keit war der mit 1,60 Me­ter Kör­per­grö­ße ver­hält­nis­mä­ßig klei­ne Mann stets sehr ehr­gei­zig und pein­lich ge­nau wäh­rend sei­ner Ar­beit.[4]

Nach­dem der Va­ter 1928 an der Kie­ler Stra­ße am nörd­li­chen Orts­aus­gang der Land­ge­mein­de Quick­born die Gast­wirt­schaft Bil­sen­er­wohld von der Wit­we Ka­tha­ri­ne Ha­gen er­wor­ben und sich hier un­weit des Ho­fes sei­ner Schwes­ter Mar­ga­re­te Siems nie­der­ge­las­sen hat­te,[5] zog ein Jahr spä­ter auch der in­zwi­schen 20-jäh­ri­ge Paul Thom­sen von Ham­burg kom­mend in den el­ter­li­chen Haus­halt. Ver­mut­lich be­rufs­be­dingt ver­ließ er die­sen im Mai 1930 vor­erst wie­der, um nach Han­no­ver[6] und dann nach Ham­burg zu zie­hen.[7]

Im Som­mer 1934 er­krank­te Paul Thom­sen plötz­lich, ohne dass eine ge­naue Ur­sa­che er­sicht­lich war: Er hat­te ei­ni­ge Tage Ur­laub ge­habt, die er in Quick­born ver­brach­te, und noch am 1. Juli 1934 mit in der Gast­wirt­schaft des Va­ters aus­ge­hol­fen, als die Krank­heit aus­brach. Abends noch war er zum Tanz aus­ge­gan­gen und hat­te nach der Rück­kehr mit dem Va­ter ei­nen eher un­be­deu­ten­den Streit ge­habt, weil er wohl et­was zu viel Geld aus­ge­ge­ben hat­te. Was dar­über hin­aus an die­sem Tag pas­sier­te, ist an­hand der vor­han­de­nen Quel­len nicht er­sicht­lich.[8] Ei­nen Tag spä­ter je­den­falls fühl­te er sich so ge­schwächt, dass er in das Kreis­kran­ken­haus Pin­ne­berg auf­ge­nom­men wer­den muss­te.[9] Es stell­ten sich Er­re­gungs­er­schei­nun­gen ein, wie sie für die Er­kran­kung Schi­zo­phre­nie kenn­zeich­nend wa­ren und am 10. Juli 1934 zu ei­ner Ver­le­gung in die Lan­des-Heil- und Pfle­ge­an­stalt Neu­stadt führ­ten.[10]

Die 1893 ge­grün­de­te Lan­des-Heil- und Pfle­ge­an­stalt Neu­stadt war ne­ben der Pfle­ge­an­stalt in Schles­wig-Stadt­fel­de die zwei­te öf­fent­li­che Pfle­ge­an­stalt in Schles­wig-Hol­stein für Men­schen mit psy­chi­schen Er­kran­kun­gen.[11] Sie wies 1934 eine Be­le­gungs­ka­pa­zi­tät von ca. 1400 Pa­ti­en­ten auf[12] und stell­te als Heil­an­satz die Ar­beits­the­ra­pie in den Vor­der­grund, die in den zahl­reich vor­han­de­nen Werk­stät­ten an­ge­wen­det wur­de.[13] Die me­di­ka­men­tö­se Be­hand­lung von psy­chisch Er­krank­ten be­schränk­te sich vor al­lem auf In­ter­ven­tio­nen bei Un­ru­he­zu­stän­den. Als „ak­ti­ve so­ma­ti­sche The­ra­pi­en“ der Schi­zo­phre­nie wur­den bei un­ru­hi­gen Pa­ti­en­ten die ge­sund­heit­lich ge­fähr­li­chen Fie­ber- und In­su­lin-„Ku­ren“ und der me­di­ka­men­tö­se Dau­er­schlaf an­ge­wen­det. Des Wei­te­ren wur­den Ver­fah­ren der „Heil­krampf­be­hand­lung“ ein­ge­setzt, bei de­nen z.B. durch die In­jek­ti­on des Me­di­ka­men­tes Car­di­a­zol oder durch die An­wen­dung von Elek­tro­schocks epi­lep­ti­sche An­fäl­le aus­ge­löst wur­den.[14]

In der Heil­an­stalt durch­leb­te Paul Thom­sen wech­seln­de Ge­sund­heits­zu­stän­de. Er mach­te in den Krank­heits­schü­ben ei­nen zer­fah­re­nen und ängst­li­chen Ein­druck, durch­leb­te Pha­sen der Ruhe- und Schlaf­lo­sig­keit, wirk­te dann aber auch wie­der apa­thisch und starr. Der Pa­ti­ent führ­te mit­un­ter Selbst­ge­sprä­che und ver­nahm akus­ti­sche Hal­lu­zi­na­tio­nen. Bei­spiel­haft ist hier eine Ein­tra­gung in der Ver­laufs­do­ku­men­ta­ti­on vom 21.08.1934 wie­der­ge­ge­ben: „Nachts viel geweint, unruhig im Bett gewühlt. Veronal [Schlaf­mit­tel, d. Verf.].- Am Tage gehemmt, stuporös,[15] manierierte[16] Armbewegungen. Grimmassieren. Wortlos, meist gar keine Antworten.- Ißt nicht von selbst.“ [17] Zeit­wei­lig be­fand sich Paul Thom­sen je­doch auch in wa­chen und kla­ren Zu­stän­den, in de­nen er im Frei­en ei­ner Be­schäf­ti­gung nach­ging und in der Kü­che der Heil­an­stalt beim Schlach­ten und Wurst­ma­chen half. Be­such er­hielt er in der Heil­an­stalt von sei­nen Brü­dern, die den wei­ten Weg nach Neu­stadt nicht scheu­ten. Aus den An­deu­tun­gen in der ärzt­li­chen Ver­laufs­do­ku­men­ta­ti­on geht her­vor, dass er sich eine schnel­le Ent­las­sung aus der Heil­an­stalt her­bei­sehn­te.[18]

Die Ärzte der Heil­an­stalt sa­hen in Paul Thom­sen ei­nen „Erb­kran­ken“ und mel­de­ten ihre Dia­gno­se im Sep­tem­ber 1934 dem Kreis­arzt in Pin­ne­berg. Dar­über hin­aus er­stell­ten sie am 21. Ok­to­ber 1934 über ih­ren Pa­ti­en­ten ein Ste­ri­li­sie­rungs­gut­ach­ten, das an das Erb­ge­sund­heits­ge­richt Kiel wei­ter­ge­lei­tet wur­de. Die­ses folg­te dem Gut­ach­ten und er­stell­te ei­nen „rechts­kräf­ti­gen“ Ste­ri­li­sie­rungs­be­scheid, der am 10. De­zem­ber 1934 Paul Thom­sen in Neu­stadt zu­ge­stellt wur­de.[19]

Die recht­li­che Grund­la­ge für die auch zwangs­wei­se durch­ge­führ­ten Ste­ri­li­sie­run­gen im Deut­schen Reich bil­de­te das „Ge­setz zur Ver­hü­tung erb­kran­ken Nach­wuch­ses“ vom 14. Juli 1933.[20] Durch die Un­frucht­bar­ma­chung soll­ten Per­so­nen, die als un­heil­bar krank an­ge­se­hen wur­den und von ei­nem erb­li­chen Lei­den be­trof­fen wa­ren – hier­zu wur­den pau­schal auch alle an Schi­zo­phre­nie er­krank­ten Men­schen hin­zu­ge­zählt – aus so­zi­al­dar­wi­nis­ti­schen Über­le­gun­gen her­aus kei­ne Nach­kom­men zeu­gen kön­nen, um nach­fol­gen­de Ge­ne­ra­tio­nen nicht zu „be­las­ten“. Ins­ge­samt wur­den an­näh­rend 400.000 Frau­en und Män­ner im Drit­ten Reich un­frucht­bar ge­macht. Wer zu ste­ri­li­sie­ren sei, wur­de von den Erb­ge­sund­heits­ge­rich­ten ent­schie­den, in de­nen je­weils ein Rich­ter und zwei Ärzte die Er­kran­kun­gen be­wer­te­ten. 75 Pro­zent der an die Erb­ge­sund­heits­ge­rich­te her­an­ge­tra­ge­nen Fäl­le wur­den von den Ärz­ten ge­mel­det.[21] Bis 1937 wur­den in der Neu­städ­ter Heil­an­stalt 301 Pa­ti­en­ten durch ei­nen chir­ur­gi­schen Ein­griff un­frucht­bar ge­macht.[22]

Dass Paul Thom­sen mit der staat­lich an­ge­ord­ne­ten Ste­ri­li­sa­ti­on nicht ein­ver­stan­den war, geht aus den Ein­tra­gun­gen der Kran­ken­ver­laufs­do­ku­men­ta­ti­on her­vor, in der das Pfle­ge­per­so­nal ver­merk­te: „hällt seine Sterilisierung für überflüssig und ungerecht.[23] Der Pa­ti­ent, dem es nach der Pa­ti­en­ten­ak­te seit Sep­tem­ber 1934 wie­der bes­ser zu ge­hen schien, wur­de schließ­lich Mit­te De­zem­ber 1934 aus der Lan­des­heil­an­stalt Neu­stadt ent­las­sen. Ver­bun­den mit sei­ner Ent­las­sung war ver­mut­lich die Zu­stim­mung zur Un­frucht­bar­ma­chung. Die Ein­tra­gung in der Kran­ken­ver­laufs­do­ku­men­ta­ti­on vom 19. De­zem­ber 1934 hier­zu: „Zwecks Sterilisation ins Kreiskrankenhaus in Pinneberg gebessert entlassen.[24]

Zu­rück­ge­kehrt nach Quick­born ver­zog er ver­mut­lich be­rufs­be­dingt im Mai 1939 kurz­fris­tig nach Elms­horn[25] und spä­ter zu Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen nach Gle­schen­dorf, nahe Schar­beutz,[26] von wo aus er im Fe­bru­ar 1941 nach Quick­born zu sei­nen El­tern zu­rück­kehr­te. An­schei­nend hat­te sich sei­ne Er­kran­kung hier wie­der ver­schlim­mert, denn be­reits drei Mo­na­te spä­ter, am 6. Mai 1941, wur­de er er­neut in der Lan­des­heil­an­stalt Neu­stadt auf­ge­nom­men.[27] Die­se Neu­auf­nah­me ge­schah in ei­ner Zeit, in der die aus Ber­lin zen­tral ge­steu­er­ten „Eu­tha­na­sie“-Tö­tun­gen von Men­schen mit Be­hin­de­run­gen und psy­chi­schen Er­kran­kun­gen auch das Land Schles­wig-Hol­stein er­reich­ten.

Vor­aus­ge­gan­gen war ein auf den 1. Sep­tem­ber 1939 un­ter­zeich­ne­tes Schrei­ben Adolf Hit­lers, in dem die­ser sei­nen Be­gleit­arzt Karl Brandt und den Chef der Reichs­kanz­lei Phil­ipp Bo­uh­ler mit der Or­ga­ni­sa­ti­on und Durch­füh­rung der „Eu­tha­na­sie“ be­auf­trag­te. In der Fol­ge­zeit wur­de in Ber­lin eine Zen­tra­le ein­ge­rich­tet, die sich in der Tier­gar­ten­stra­ße 4 be­fand, wes­halb die Durch­füh­run­gen der „Eu­tha­na­sie“-Tö­tun­gen in den spä­te­ren Jah­ren als „T4“ be­zeich­net wur­den. Um den Kran­ken­mord ge­heim zu hal­ten, setz­te sich die T4-Zen­tra­le aus vier Ab­tei­lun­gen mit den un­ver­fäng­li­chen Be­zeich­nun­gen Reichs­ar­beits­ge­mein­schaft Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten, Ge­mein­nüt­zi­ge Stif­tung für An­stalts­pfle­ge, Zen­tral­ver­rech­nungs­stel­le Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten und Ge­mein­nüt­zi­ge Kran­ken­trans­port GmbH (Ge­krat) zu­sam­men. Auf­ga­be die­ser Schein­fir­men war es, sechs als Tö­tungs­an­stal­ten be­stimm­te Heil­an­stal­ten ent­spre­chend ih­rer neu­en Funk­ti­on um­zu­bau­en und zu be­trei­ben, die zur Tö­tung vor­ge­se­he­nen Pa­ti­en­ten zu er­fas­sen, die „Ver­le­gun­gen“ zu or­ga­ni­sie­ren, die Pfle­ge­kos­ten mit den Kos­ten­trä­gern ab­zu­rech­nen und nach den Tö­tun­gen der Pa­ti­en­ten den Nach­lass ab­zu­wi­ckeln als auch mit fin­gier­ten Trost­brie­fen an die Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen und fal­schen stan­des­amt­li­chen Ein­tra­gun­gen die Er­mor­dung zu ver­schlei­ern. Er­mit­telt wur­den die für die „Eu­tha­na­sie“-Ak­ti­on vor­ge­se­he­nen Pa­ti­en­ten an­hand von Mel­de­bö­gen, die an die Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten ver­sen­det und nach dem Rück­ver­sand von me­di­zi­ni­schen „Gut­ach­tern“ aus­ge­wer­tet wur­den. An­zu­ge­ben wa­ren hier u.a. An­ga­ben über die Er­kran­kung, die Dau­er des Auf­ent­halts in der Heil­an­stalt, die Ar­beits­fä­hig­keit und Kon­tak­te zu Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Auf Grund­la­ge der Fra­ge­bo­gen­aus­wer­tun­gen wur­den Ver­le­gungs­lis­ten er­stellt und die Pa­ti­en­ten of­fi­zi­ell aus „kriegs­wich­ti­gen Grün­den“ teil­wei­se über Zwi­schen­sta­tio­nen in eine „Eu­tha­na­sie“-Ein­rich­tung ver­schleppt, wo sie mit Gas ver­gif­tet und an­schlie­ßend so­gleich ein­ge­äschert wur­den. Ins­ge­samt ca. 70.000 Men­schen sind die­sen „Eu­tha­na­sie“-Maß­nah­men zum Op­fer ge­fal­len.[28]

Zwei Wo­chen nach der An­kunft von Paul Thom­sen in der Heil­an­stalt Neu­stadt er­folg­te am 20. Mai 1941 von dort der ers­te Trans­port in eine „Eu­tha­na­sie“-Tö­tungs­an­stalt. 140 Pa­ti­en­ten wur­den of­fi­zi­ell aus Grün­den des Luft­schut­zes und der Neu­ge­stal­tung des Heil- und Pfle­ge­we­sens mit ei­nem Son­der­zug der Deut­schen Reichs­bahn in die für Schles­wig-Hol­stein zu­stän­di­ge „Eu­tha­na­sie“-An­stalt in Bern­burg (Sach­sen-An­halt) trans­por­tiert und hier noch am glei­chen Tag in der dort ein­ge­rich­te­ten Gas­kam­mer er­mor­det.[29] Un­ter den 97 Pa­ti­en­ten des zwei­ten „Ver­le­gungs­trans­por­tes“ aus der Lan­des­heil­an­stalt Neu­stadt, der am 13. Juni 1941 er­folg­te und über die Heil­an­stalt Kö­nigs­lut­ter als Zwi­schen­sta­ti­on er­neut nach Bern­burg führ­te,[30] be­fand sich auch die Quick­bor­ne­rin Mag­da Jan­zen.[31] Un­klar ist, ob sich die bei­den Quick­bor­ner, die bei­de in ih­rem Hei­mat­ort nur we­ni­ge hun­dert Me­ter von­ein­an­der ent­fernt in der Kie­ler Stra­ße wohn­ten,[32] in Neu­stadt noch ein­mal be­geg­ne­ten.

Paul Thom­sen blieb in die­ser ers­ten, zen­tral ge­steu­er­ten Pha­se der „Eu­tha­na­sie“ von dem Kran­ken­mord ver­schont. In den Trans­port­lis­ten wur­de er wahr­schein­lich des­halb nicht auf­ge­führt, da die Ent­schei­dung über die für die „Eu­tha­na­sie“ vor­ge­se­he­nen Pa­ti­en­ten in der T4-Zen­tra­le be­reits vor sei­nem Ein­tref­fen in die Heil­an­stalt Neu­stadt er­folgt war und er von der Mel­de­bo­gen-Ak­ti­on da­her ver­mut­lich nicht mehr er­fasst wur­de. Die­se wur­den im Juni 1940 an das Re­gie­rungs­prä­si­di­um in Schles­wig ge­sen­det und von hier aus an die An­stal­ten in der preu­ßi­schen Pro­vinz wei­ter­ge­lei­tet. Nach der Rück­sen­dung der be­ar­bei­te­ten Mel­de­bö­gen er­hiel­ten die An­stalts­lei­tun­gen im Mai 1941 eine Ko­pie ei­nes Schrei­bens von Gau­lei­ter Hin­rich Loh­se als Ober­prä­si­den­ten der Pro­vinz Schles­wig-Hol­stein und Be­auf­trag­ter des Reichs­ver­tei­di­gungs­kom­mis­sars für den Wehr­kreis X, in dem die­ser an­kün­dig­te, dass dem­nächst eine grö­ße­re An­zahl von Pa­ti­en­ten aus den Heil­an­stal­ten der Pro­vinz Schles­wig-Hol­stein in an­de­re An­stal­ten ver­legt wer­den. Am 9. Mai 1941 er­folg­te dar­auf­hin in Schles­wig-Hol­stein der ers­te von der Ge­krat ge­lei­te­te Kran­ken­trans­port von Pa­ti­en­ten aus dem Lan­des­ju­gend­heim und Lan­des­pfle­ge­heim Schles­wig-Hes­ter­berg nach Bern­burg und Mit­te Mai er­reich­ten die von der T4-Zen­tra­le an­ge­fer­tig­ten Ver­le­gungs­pa­pie­re die Lan­des­heil­an­stalt Neu­stadt.[33]

Die zen­tral or­ga­ni­sier­te „Eu­tha­na­sie“ durch Gas­ver­gif­tung wur­de am 24. Au­gust 1941 auf münd­li­che An­wei­sung Hit­lers ab­ge­bro­chen nach­dem im­mer mehr In­for­ma­tio­nen über den Kran­ken­mord in die Öffent­lich­keit und in das Aus­land ge­rie­ten und ins­be­son­de­re der Bi­schof von Müns­ter Cle­mens Au­gust Graf von Ga­len in ei­ner Pre­digt die „Eu­tha­na­sie“-Ak­tio­nen scharf kri­ti­sier­te und da­mit das NS-Re­gime in Be­dräng­nis brach­te und zum Han­deln nö­tig­te. Die Be­völ­ke­rung soll­te in der kri­ti­schen Kriegs­zeit nicht un­nö­tig be­un­ru­higt wer­den.[34] Zu ei­nem ge­ne­rel­len Ab­bruch der „Eu­tha­na­sie“-Ak­tio­nen kam es je­doch nicht. Viel­mehr wur­den die Tö­tun­gen durch Gas ein­ge­stellt und un­ter teil­wei­ser Bei­be­hal­tung der Ber­li­ner T4-Bü­ro­kra­tie der Kran­ken­mord de­zen­tral auf meh­re­re Heil­an­stal­ten ver­teilt und mit un­auf­fäl­li­ge­ren Me­tho­den fort­ge­führt. Ge­tö­tet wur­de nun­mehr durch me­di­zi­ni­sche Un­ter­ver­sor­gung, Man­gel­er­näh­rung und Me­di­ka­men­ten­ver­gif­tung. Um auch die­se Tö­tun­gen zu ver­schlei­ern, wur­den er­neut „kriegs­wich­ti­ge Grün­de“ an­ge­führt. Zeit­gleich mit der An­wei­sung Hit­lers, die zen­tra­len „Eu­tha­na­sie“-Ak­tio­nen ein­zu­stel­len, wur­de nach Ge­sprä­chen zwi­schen dem T4-Or­ga­ni­sa­tor Karl Brandt und den für die Ko­or­di­na­ti­on des Bau­we­sens in der Kriegs­zeit zu­stän­di­gen Fritz Todt an­ge­kün­digt, für be­stimm­te luft­ge­fähr­de­te Städ­te Er­satz­bau­ten für be­schä­dig­te Kran­ken­häu­ser ein­zu­rich­ten und hier­für Er­satz­räum­lich­kei­ten zu schaf­fen, wo­bei hier­bei auch die Räu­mung von Heil- und Pfle­ge­an­stal­ten ein­zu­be­zie­hen wa­ren.[35] Um kriegs­ver­sehr­te Per­so­nen auf­zu­neh­men, soll­ten Men­schen mit psy­chi­schen Er­kran­kun­gen oder geis­ti­gen Be­hin­de­run­gen ihre Bet­ten frei­ma­chen und in an­de­re An­stal­ten ver­legt wer­den. In ei­ni­gen die­ser Aus­weich­ein­rich­tun­gen wur­den die hil­fe­be­dürf­ti­gen Men­schen nach der An­kunft ent­we­der ge­zielt ge­tö­tet oder das Ab­le­ben des Pa­ti­en­ten durch Un­ter­ver­sor­gung be­wusst in Kauf ge­nom­men. Be­ti­telt wur­den die­se Ver­le­gun­gen, die die Ka­ta­stro­phen­hil­fe mit dem Kran­ken­mord ver­ban­den, mit der Be­zeich­nung „Ak­ti­on Brandt“.[36]

Als Aus­weich­kran­ken­haus vor­ge­se­hen war auch die Lan­des­heil­an­stalt Neu­stadt, die ab Sep­tem­ber 1941 auf Ver­an­las­sung der Or­ga­ni­sa­ti­on Todt und un­ter or­ga­ni­sa­to­ri­scher Be­tei­li­gung der Ge­krat zu räu­men war, um Kriegs­ver­letz­ten aus der Kie­ler Be­völ­ke­rung zur Ver­fü­gung zu ste­hen. In­ner­halb von zwei Wo­chen wur­den über 700 An­stalts­in­sas­sen ver­legt. Die ers­ten Kran­ken­trans­por­te mit der Reichs­bahn mit 366 Pa­ti­en­ten fan­den am 26. Sep­tem­ber 1941 statt und führ­ten in die Heil­an­stal­ten in Sorau, Lands­berg und Bra­nitz. Zwei Tage spä­ter fand ein wei­te­rer Trans­port statt. Dies­mal wur­den 70 Frau­en und 280 Män­ner, dar­un­ter auch Paul Thom­sen, mit ei­nem Son­der­zug in die bran­den­bur­gi­sche Lan­des­heil­an­stalt Neu­rup­pin ge­bracht.[37] Die über­füll­te Heil­an­stalt in Neu­rup­pin war hier­bei nur eine Zwi­schen­sta­ti­on. Mit­hil­fe der wei­ter­hin be­ste­hen­den T4-Zen­tra­le or­ga­ni­sier­te die Ge­krat zwei Kran­ken­trans­por­te zur „Ent­las­tung“ der An­stalt, wo­durch 169 der 350 ehe­ma­li­gen Neu­städ­ter Pa­ti­en­ten wei­ter­ver­legt wur­den. Am 21. No­vem­ber 1941 brach­te ein Zug der Reichs­bahn Paul Thom­sen und 111 wei­te­re männ­li­che Pa­ti­en­ten in ei­nem ers­ten Trans­port und am 25. No­vem­ber 1941 noch­mals 26 männ­li­che und 31 weib­li­che Pa­ti­en­ten in ei­nem zwei­ten Trans­port in die Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof.[38]

Die Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof be­fand sich 50 Ki­lo­me­ter von Po­sen ent­fernt, nahe am Stadt­ge­biet von Gne­sen im Reichs­gau Wart­he­land. Vor der deut­schen Be­set­zung trug die 1894 ge­grün­de­te Ein­rich­tung den Na­men „Psych­ia­tri­sche An­stalt Dzie­kan­ka“. Die An­stalt war ein ein­ge­zäun­ter Ge­bäu­de­kom­plex mit ei­ner Ka­pa­zi­tät von 1.200 Bet­ten. Bis zur Be­set­zung Po­lens durch die Wehr­macht wur­den hier die fort­schritt­lichs­ten Heil­me­tho­den im Be­reich der Heil- und Pfle­ge­the­ra­pie für psy­chisch er­krank­te Men­schen an­ge­wen­det.[39] Als Di­rek­tor war seit 1934 der Arzt Dr. Vic­tor Rat­ka ein­ge­setzt, der nach der Be­set­zung sei­ne volks­deut­sche Zu­ge­hö­rig­keit be­ton­te, Di­rek­tor der An­stalt blieb und zeit­wei­se als „Gut­ach­ter“ in der Ber­li­ner T4-Zen­tra­le tä­tig war.[40] Im Lau­fe des Jah­res 1939 ent­ließ er den Groß­teil des pol­ni­schen Per­so­nals und er­setz­te die­ses durch reichs- oder volks­deut­sche Ärzte und Pfle­ger. Die ver­blie­be­nen pol­ni­schen Pfle­ge­kräf­te wur­den hin­ge­gen de­gra­diert und zu ein­fa­che­ren Ar­beit­s­tä­tig­kei­ten her­an­ge­zo­gen.[41]

Noch be­vor im „Alt­reich“ die zen­tral ge­lenk­te „Eu­tha­na­sie“ –Tö­tun­gen an Er­wach­se­nen statt­fan­den, wur­den be­reits gleich nach der Be­set­zung Po­lens pol­ni­sche und jü­di­sche An­stalts­in­sas­sen in ent­le­ge­nen Ge­bie­ten er­schos­sen oder mit Gift­gas er­mor­det, wäh­rend deutsch­stäm­mi­ge Pa­ti­en­ten zu­min­dest vor­läu­fig über­leb­ten. So wur­den auch im Ver­wal­tungs­be­zirk Wart­he­gau bis Ende 1939 min­des­tens 595 pol­ni­sche Pa­ti­en­ten der An­stalt Tie­gen­hof in Po­sen in ei­ner Gas­kam­mer er­mor­det. Ab Ja­nu­ar 1940 wur­de die Er­mor­dung auf mo­bi­le Gas­kam­mern, den Gas­wa­gen, um­ge­stellt, in dem die rest­li­chen nicht­deut­schen Pa­ti­en­ten von Tie­gen­hof mit Koh­len­mon­oxyd durch Son­der­kom­man­dos der SS um­ge­bracht wur­den.[42]

Nach­dem mit der Tö­tung von ins­ge­samt 1.043 pol­ni­schen und jü­di­schen Pa­ti­en­ten[43] die Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof bis auf we­ni­ge volks­deut­sche und ar­beits­fä­hi­ge pol­ni­sche Pa­ti­en­ten leer­ge­mor­det war, wur­de die An­stalt ab Mit­te 1940 mit neu­en Pa­ti­en­ten­trans­por­ten u.a. aus dem nörd­li­chen Reichs­ge­biet auf­ge­füllt. Hier­un­ter be­fan­den sich 66 de­por­tier­te Men­schen mit Be­hin­de­run­gen aus den Als­ter­dor­fer An­stal­ten, die ab dem 14. No­vem­ber 1941 über die Ham­bur­ger An­stalt Lan­gen­horn in Tie­gen­hof ein­tra­fen. 65 von ih­nen über­leb­ten die Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus nicht, denn auch hier ging der Kran­ken­mord an ver­leg­ten deut­schen und neu ein­tref­fen­den pol­ni­schen kran­ken Pa­ti­en­ten bis Kriegs­en­de wei­ter.[44] Ge­tö­tet wur­de nun je­doch nicht mehr durch die SS mit Koh­len­mon­oxid, son­dern durch die (volks-)deut­schen Ärzte und Pfle­ger mit­hil­fe der phar­ma­ko­lo­gi­schen Mit­tel Chlo­ral­hy­drat, Lu­mi­nal und Sko­po­la­min, die oral, über Son­den, durch In­jek­tio­nen oder durch das Ver­men­gen mit der Kost ver­ab­reicht wur­den.[45] An­ge­lie­fert wur­den die Arz­nei­gif­te zu­meist vom Kri­mi­nal­tech­ni­schen In­sti­tut des Reichs­kri­mi­nal­po­li­zei­am­tes in Ber­lin, das ne­ben Tie­gen­hof auch an­de­re An­stal­ten und auch die T4-Zen­tra­le di­rekt be­lie­fer­te.[46] Das Ab­le­ben der Pa­ti­en­ten er­folg­te in se­pa­ra­ten „Ster­be­zim­mern“, die mit zwei bis sechs Bet­ten aus­ge­stat­tet wa­ren.[47]

Über die­se Kran­ken­mor­de gab ein ehe­ma­li­ger pol­ni­scher Pfle­ger in ei­ner Ver­neh­mung nach dem Krieg Aus­kunft: „Auf die Frage, ob mir Fälle bekannt seien über Tötung von Kranken durch Verabreichung übermäßiger Mengen von Schlafmitteln, erkläre ich: Derartige Fälle kamen sehr häufig vor und über dieses Thema unterhielten sich die polnischen Pfleger. Ich selbst habe während meines Nachtdienstes auf Abteilung II sehr viele Fälle des Ablebens von Patienten gesehen, die absolut nicht den Anschein eines bevorstehenden Ablebens erweckten. In der Abteilung, in der ich Dienst machte, gab es bis zu 6 (sechs) Todesfälle täglich. Einmal rief ich Jobst [ein deut­scher Ober­pfle­ger, d. Verf.] des Nachts zu einem unruhigen Kranken. Jobst kam zur Abteilung, entnahm der Seitentasche seines Mantels eine gefüllte Injektionsspritze und gab – indem er die Spritze in der ganzen Hand derartig hielt, damit ich diese nicht sehen sollte – dem Kranken eine Injektion, welcher nach kurzer Zeit verstarb. Ich habe des öfteren gesehen, daß die deutschen Pfleger … den unruhigen Kranken ein mir nicht bekanntes Mittel verabreichten in Form einer Lösung im Glas. Diese Lösung hatte eine gelbe Färbung, deshalb sagten diese Pfleger, sie verabreichten den Kranken „die gelbe Suppe“. Nach Erhalt dieses Mittels verstarben die Kranken. Während meines Nachtdienstes bemühte ich mich festzustellen, was das für ein Mittel sei, es gelang mir jedoch nicht die Schubladen in den Zimmern der Abteilungsältesten zu öffnen. (…) Ich kenne Chloralhydrat als Schlafmittel. Vor dem Kriege gaben wir den Kranken diese Lösung in sehr kleinen Dosierungen, indem wir die Tropfen in einen Teelöffel auszählten. Während des Krieges verabreichten die deutschen Pfleger den Kranken dieses Mittel glasweise. Ich bin davon überzeugt, daß eine Überdosierung dieses Schlafmittels zahlreiche Todesfälle nach sich zog und ich selbst war Zeuge dessen.

In ei­nem kon­kre­ten Fall gab der Pfle­ger an: „Eines Tages übergab mir Hoppe [ein deut­scher Pfle­ger, d. Verf.] als ich den Nachtdienst in Abteilung IV übernahm, einen aus dem Gefängnis in Sieradz eingelieferten Patienten, der im Separatzimmer lag, wobei er mir sagte, der Patient sei behandelt worden, er hätte eine ansteckende Krankheit und deshalb hätte ich mich ihm nicht zu nähern. Ich ging jedoch in das Separatzimmer hinein. Der Kranke war ein kräftiger Mann, er hatte Schaum auf den Lippen, er atmete schwer, der Pulsschlag war kaum festzustellen. Gegen Morgen war der Kranke verstorben. Wie ich annehme, infolge einer Injektion.[48]

Aber nicht nur durch Me­di­ka­men­ten­ver­ga­be wur­de ge­tö­tet, son­dern auch durch die be­wuss­te Un­ter­ver­sor­gung mit Le­bens­mit­teln, wie der glei­che Pfle­ger in den Ver­neh­mun­gen an­merk­te: „In diesem Zusammenhang möchte ich hinzufügen, daß die hohe Sterblichkeitsziffer der Kranken gleichfalls verursacht worden war durch die mangelnde Ernährung der Patienten. Ich nehme sogar an, daß dies beabsichtigt war. Ich habe nämlich gesehen, daß die Kranken verschiedene hinsichtlich der Menge Essensportionen erhielten. Die arbeitsfähigen Kranken erhielten reichlichere Portionen als diejenigen, die schon nicht mehr arbeiten konnten. Letztere erhielten nämlich völlig unzureichende Portionen um überhaupt den Kranken am Leben zu erhalten. Ich bin der Meinung, daß die Schuld am Aushungern der Patienten die Abteilungsältesten tragen, die darüber entschieden, wie die in die Abteilung gelieferte Ernährungsmenge aufzuteilen sei.[49]

Die Fra­ge der Ar­beits­fä­hig­keit war nicht das ein­zi­ge Kri­te­ri­um, das über Tod oder Le­ben ei­nes Pa­ti­en­ten ent­schied, son­dern auch, in­wie­weit der Pa­ti­ent sich in den Pfle­ge­be­trieb ein­füg­te und dem Per­so­nal we­nig „Pro­ble­me“ be­rei­te­te. Eine pol­ni­sche Pfle­ge­rin äu­ßer­te über die Aus­wahl der er­mor­de­ten Pa­ti­en­ten: „Nach meinen Beobachtungen handelte es sich hier um unruhige, laute und insbesondere um solche Kranke, die aggressiv waren oder die Wäsche unbrauchbar machten.[50]

Die Ver­stor­be­nen wur­den ab 1942 auf dem an­stalts­ei­ge­nen Fried­hof in Tie­gen­hof bei­ge­setzt.[51] Ein Kran­ken­pfle­ger er­in­ner­te sich hier­an: „Ich war beim Vorbereiten der Gräber für die im Spital verstorbenen Patienten beteiligt. Gemeinsam mit Patienten schaufelten wir die Gräber auf dem Friedhof aus, in welchen weitere Leichen untergebracht wurden. Es waren dies Massengräber. Die Beerdigung fand offiziell statt, die Leichen wurden aus der Leichenhalle in einem Sarg zum Friedhof gebracht, das Hinablassen der Leichen in das Grab fand jedoch nicht mit dem Sarg statt, sondern derartig, daß der Boden des Sargs geöffnet wurde und die Leichen selbst ins Grab fielen. Ich berichtige dahingehend, daß der Sarg ins Grab hinabgelassen wurde, und dort wurde der Boden geöffnet, worauf der Sarg nach oben gezogen wurde für das nächste Begräbnis. Wenn bei der Beerdigung Verwandte des Verstorbenen teilnahmen, wurde mit dem Herausziehen des Sarges bis zum Abmarsch der Verwandten gewartet. Sofern die Verwandten länger verblieben, wurden sie delikat vom Friedhof weggebeten.[52]

Zur Ver­schleie­rung der wah­ren Ster­be­um­stän­de gab die An­stalt ge­gen­über den An­ge­hö­ri­gen zu­meist als To­des­ur­sa­che Blut­ver­gif­tung, fie­ber­haf­ter Darm­ka­tarrh, all­ge­mei­ne Ent­kräf­tung oder Lun­gen­ent­zün­dung an.[53] Eine ge­naue An­ga­be über die Ge­samt­zahl der in der Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof ver­stor­be­nen Men­schen konn­te auf­grund der lü­cken­haf­ten Quel­len­la­ge in der Nach­kriegs­zeit nicht er­mit­telt wer­den.[54] In ak­tu­el­len For­schun­gen wird die Op­fer­zahl auf 5.000 Men­schen ge­schätzt.[55] Das Aus­maß des Mas­sen­mor­des in Tie­gen­hof lässt sich bei­spiel­haft an­hand der Sterb­lich­keit der aus der An­stalt Lan­gen­horn ein­ge­lie­fer­ten Pa­ti­en­ten an­ge­ben. In den drei Trans­por­ten aus Ham­burg vom 14., 20. und 27.11.1941 wur­den 203 Men­schen nach Tie­gen­hof de­por­tiert.[56] Von die­sen über­leb­ten 173 Per­so­nen (85,2 Pro­zent) das Kriegs­en­de nicht.[57]

Am 21. Ja­nu­ar 1945 wur­de Tie­gen­hof von der Ro­ten Ar­mee be­freit.[58] Die deut­schen Ärzte und das deut­sche Pfle­ge­per­so­nal hat­ten sich in­zwi­schen schon im Wes­ten ab­ge­setzt. Als ei­ni­ge von ih­nen An­fang der 1960er Jah­re über ihre Tä­tig­keit in Tie­gen­hof ver­nom­men wur­den, kann sich kei­ner an Ver­bre­chen er­in­nern. Der aus dem Bal­ti­kum stam­men­de Volks­deut­sche und ehe­ma­li­ge Ober­arzt der Frau­en­ab­tei­lung, Dr. Wla­di­mir Ni­ko­la­jew, der in­zwi­schen in Uel­zen wohn­haft war, er­klär­te: „Mir persönlich ist kein Fall der Tötung eines Patienten der Gauheilanstalt Tiegenhof bekannt.“ [59] Le­dig­lich die nach dem Krieg in Ulm nie­der­ge­las­se­ne Ärz­tin Dr. Prae­to­ri­us be­rich­te­te von De­fi­zi­ten in der Pa­ti­en­ten­un­ter­brin­gung, die sie al­ler­dings ver­harm­lo­send äu­ße­ren Um­stän­den zu­schrieb: „Damals war die Versorgung der Kranken nicht ausreichend. Kranke und Pflegepersonal lebten den ganzen Winter über in Räumen, die überhaupt nicht geheizt wurden. So war es kein Wunder, dass viele der sowieso schon leicht anfälligen Geisteskranken krank wurden.[60]

Paul Thom­sen hat die Be­frei­ung nicht mehr mit­er­lebt. Nach 2 ½ Jah­ren Auf­ent­halt in der Gau­heil­an­stalt Tie­gen­hof starb er hier am 14. Mai 1944.[61] Die El­tern in Quick­born er­hiel­ten die Mit­tei­lung, dass ihr Sohn an Lun­gen­ent­zün­dung ge­stor­ben sei.[62]  Ob die Fa­mi­lie et­was ge­ahnt hat­te über die ge­nau­en Ver­hält­nis­se in Tie­gen­hof, ist nicht be­kannt. In der von ihr auf­ge­ge­be­nen To­des­an­zei­ge, in der be­kannt­ge­ge­ben wur­de, dass die Be­er­di­gung be­reits statt­ge­fun­den habe, war zu le­sen: „Am 14. Mai wurde unser lieber Sohn, Bruder und Schwager Paul Thomsen im 36. Lebensjahr von seinem schweren Leiden durch einen sanften Tod erlöst.“ [63]

Am 1. De­zem­ber 2015 ver­leg­te der Köl­ner Künst­ler Gun­ter Dem­nig in Er­in­ne­rung an Paul Thom­sen vor sei­nem ehe­ma­li­gen Wohn­haus in der Kie­ler Stra­ße Nr. 157 ei­nen STOL­PER­STEIN. Er trägt die In­schrift:

HIER WOHN­TE
PAUL THOM­SEN
JG. 1908
SEIT 1934 VER­SCHIE­DE­NE
HEIL­AN­STAL­TEN
„VER­LEGT“ 21.11.1941
HEIL­AN­STALT TIE­GEN­HOF
ER­MOR­DET 14.5.1944

Veröffentlicht von Jörg Penning am

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